Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 39. Die Rückkehr der Exulanten 
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taten nahmen jetzt nicht mehr oben, in der Nähe des Thrones, ihren 
Ursprung, sondern unten, in den Tiefen der Volksmassen. Die christ 
liche Bevölkerung Frankreichs stand in dieser Zeit im Banne rohe 
sten Aberglaubens und blödsinnigster Vorurteile, die nicht selten in 
religiösen Irrwahn ausarteten. Der Glaube an die Wunderkraft der 
Heiligenbilder einerseits und an die Macht der Schwarzkünstler an 
dererseits bildete den Kern der Religion des gemeinen Mannes, den 
der Klerus mit Absicht in dunkelster Unwissenheit verharren ließ. 
Auf dem Boden dieser verzerrten Weltauffassung mußte der Glaube 
an die von den Juden angeblich betriebenen mysteriösen Blasphemien 
und Übeltaten üppig ins Kraut schießen. So wurden denn die Juden 
bald der Ermordung christlicher Kinder zwecks Verwendung ihres 
Blutes beim Passahmahl, bald der Schändung der kirchlichen Sakra 
mente beschuldigt. Auf Grund solcher falscher Anschuldigungen wur 
den im Jahre 1817 in Ghinon zwei Juden dem Henker überliefert 
Ähnliche Verleumdungen wurden auch an anderen Orten laut, und 
gar bald entstand in Frankreich eine Massenbewegung, wie sie seit 
der Zeit der Kreuzzüge nicht mehr in Erscheinung getreten war. Es 
war dies jene Bauernbewegung, die in der Geschichte unter dem Na 
men „Zug der Pastorellen“ (pastoureaux) fortlebt. 
Im Jahre 1820 verbreitete sich nämlich das Gerücht, daß der 
König Philipp V. einen neuen Kreuzzug nach dem Morgenlande plane. 
Das Volk geriet in Erregung. Ein jugendlicher Hirt wußte zu erzähl 
ten, daß er eine wunderbare Vision gehabt hätte: Tag für Tag sei 
eine Taube zu ihm herabgeflogen, um sich bald auf sein Haupt, bald 
auf die Schulter zu setzen; als er eines Tages die Taube zu ergreifen 
versuchte, hätte sie sich in eine schöne Jungfrau verwandelt und ihn 
aufgefordert, ein Kreuzfahrerheer aufzubieten und gegen die Ungläu 
bigen ins Feld zu ziehen, denn es seien ihm, so hätte sie geweissagt, 
ruhmreiche Siege beschieden. Bald versammelten sich um ihn im 
Flußgebiet der Garonne Haufen von Bauern und Hirten, denen sich 
auf ihrem Zuge allerlei lichtscheues Gesindel anschloß. Im Südwesten 
Frankreichs wandten sich die zuchtlosen Banden, von ihren Füh^ 
rern, zwei wegen ihres lasterhaften Wandels aus der Kirche aus 
gestoßenen Geistlichen, auf gehetzt, gegen die wehrlosen Juden. In der 
Nähe von Toulouse schlossen sich etwa fünfhundert auf der Flucht 
vor den Unmenschen begriffene Juden in einer Burg ein und wehrten 
sich mit aller Kraft gegen die ungeheure Übermacht der sie belagern- 
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