§ 39. Die Rückkehr der Exulanten
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taten nahmen jetzt nicht mehr oben, in der Nähe des Thrones, ihren
Ursprung, sondern unten, in den Tiefen der Volksmassen. Die christ
liche Bevölkerung Frankreichs stand in dieser Zeit im Banne rohe
sten Aberglaubens und blödsinnigster Vorurteile, die nicht selten in
religiösen Irrwahn ausarteten. Der Glaube an die Wunderkraft der
Heiligenbilder einerseits und an die Macht der Schwarzkünstler an
dererseits bildete den Kern der Religion des gemeinen Mannes, den
der Klerus mit Absicht in dunkelster Unwissenheit verharren ließ.
Auf dem Boden dieser verzerrten Weltauffassung mußte der Glaube
an die von den Juden angeblich betriebenen mysteriösen Blasphemien
und Übeltaten üppig ins Kraut schießen. So wurden denn die Juden
bald der Ermordung christlicher Kinder zwecks Verwendung ihres
Blutes beim Passahmahl, bald der Schändung der kirchlichen Sakra
mente beschuldigt. Auf Grund solcher falscher Anschuldigungen wur
den im Jahre 1817 in Ghinon zwei Juden dem Henker überliefert
Ähnliche Verleumdungen wurden auch an anderen Orten laut, und
gar bald entstand in Frankreich eine Massenbewegung, wie sie seit
der Zeit der Kreuzzüge nicht mehr in Erscheinung getreten war. Es
war dies jene Bauernbewegung, die in der Geschichte unter dem Na
men „Zug der Pastorellen“ (pastoureaux) fortlebt.
Im Jahre 1820 verbreitete sich nämlich das Gerücht, daß der
König Philipp V. einen neuen Kreuzzug nach dem Morgenlande plane.
Das Volk geriet in Erregung. Ein jugendlicher Hirt wußte zu erzähl
ten, daß er eine wunderbare Vision gehabt hätte: Tag für Tag sei
eine Taube zu ihm herabgeflogen, um sich bald auf sein Haupt, bald
auf die Schulter zu setzen; als er eines Tages die Taube zu ergreifen
versuchte, hätte sie sich in eine schöne Jungfrau verwandelt und ihn
aufgefordert, ein Kreuzfahrerheer aufzubieten und gegen die Ungläu
bigen ins Feld zu ziehen, denn es seien ihm, so hätte sie geweissagt,
ruhmreiche Siege beschieden. Bald versammelten sich um ihn im
Flußgebiet der Garonne Haufen von Bauern und Hirten, denen sich
auf ihrem Zuge allerlei lichtscheues Gesindel anschloß. Im Südwesten
Frankreichs wandten sich die zuchtlosen Banden, von ihren Füh^
rern, zwei wegen ihres lasterhaften Wandels aus der Kirche aus
gestoßenen Geistlichen, auf gehetzt, gegen die wehrlosen Juden. In der
Nähe von Toulouse schlossen sich etwa fünfhundert auf der Flucht
vor den Unmenschen begriffene Juden in einer Burg ein und wehrten
sich mit aller Kraft gegen die ungeheure Übermacht der sie belagern-
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