Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 29. Das geistiye Leben in Italien 
sowohl die Christen (deren Gottmenschentum) wie auch die natura 
listisch Denkenden zu widerlegen vermögen“. 
Mit einer noch viel größeren Kühnheit trat in Italien als Vor 
kämpfer des Rationalismus der spanische Emigrant Serachia ben 
Schaltiel Chen auf, der in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts 
in Rom lebte. Er verstand es, die fortschrittlichen Elemente der rö 
mischen Gemeinde, insbesondere die Jugend, durch seine Vorlesungen 
über die Sprüche Salomonis und das Buch Hiob zu begeistern, bei 
deren Auslegung er sich von den philosophischen Lehren der spani 
schen Schule leiten ließ. Maimonides galt ihm als eine unumstößliche 
Autorität, während er für die Gegner der Philosophie nichts als un 
verhohlene Verachtung übrig hatte. Über seinen ruhmreichen Lands 
mann Ramban schrieb er ohne jede Zurückhaltung: „Seine ganze Ge 
lehrsamkeit ist auf das Gebiet des Talmud beschränkt, während er in 
der Philosophie weder ein noch aus weiß; nur so ist es zu erklären, 
daß er in seinem Kommentar zum Pentateuch in der Frage der pro 
phetischen Offenbarung mit Maimonides in Widerstreit geriet, doch 
täte er besser zu schweigen, wenn von solchen Dingen die Rede ist“. 
Serachia selbst huldigte jener allegoristischen Auffassung der bibli 
schen Sagen, die bald in der Provence und in Spanien einen Sturm 
aufwirbeln und eine förmliche Verketzerung der philosophie- und 
wissenschaftbeflissenen Jugend nach sich ziehen sollte. Er glaubte in 
der Bibel selbst einen Hinweis auf die im Mittelalter übliche Klassi 
fikation der Wissenschaften gefunden zu haben und stellte, wenn auch 
in abweichender Weise, ein jüdisches Trivium und Quadrivium auf: 
„Die Weisheit baute ihr Haus auf sieben Säulen“ (Sprüche, 9, 1) — 
dies wolle besagen, auf sieben Wissenschaften, die in zwei Gruppen 
zerfallen: die mathematische (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und 
Musik) und die philosophische (Physik, Metaphysik und Politik). Sera 
chia gehörte dem radikalen Flügel der italienischen Freidenker an und 
schreckte sogar vor solchen philosophischen Schlußfolgerungen nicht 
zurück, die der Tradition direkt widersprachen. So wagte er es z. B., 
die ganze Geschichte des Propheten Jona für eine erbauliche Legende 
zu erklären und bespöttelte den liturgischen Vers: „Derjenige, der 
den im Leibe des Fisches betenden Jona erhörte, möge auch unser 
Flehen erhören“. Dieses maßlose Freidenkertum brachte ihn schließ 
lich in Konflikt mit den gemäßigteren italienischen Maimonisten, an 
deren Spitze um jene Zeit Hillel aus Verona (um 1220—1295) stand. 
14* 
21 I
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.