Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
System des Maimonides den vollendetsten Ausdruck gefunden hatte. 
Freilich waren Ziele und Mittel der christlichen und der jüdischen 
Glaubenseiferer von Grund aus verschieden: einerseits die streitbare 
Kirche, die nicht so sehr von religiösen als vielmehr von klerikalen 
Tendenzen sowie vom Autokratismus des päpstlichen Rom durchdrun 
gen war; andererseits die vom Schreckgespenst der dem Judaismus 
drohenden Gefahren verfolgten Rabbiner, die in ihrer Angst in Mai 
monides den an den Grundfesten des Glaubens und an den heiligsten 
Überlieferungen der Nation rüttelnden heidnischen Geist des -Aristo 
teles witterten. Die Kirche bekämpfte das Freidenkertum mit Feuer 
und Schwert, der Synagoge stand aber einzig und allein die geistige 
Waffe der Exkommunikation („Cherem“) zur Verfügung, die über 
dies bei fehlender Einhelligkeit innerhalb der Gemeinden ihre eigent 
liche Schärfe einbüßte. Desungeachtet bestand zwischen den gleich 
artigen Erscheinungen in den beiden Lagern zweifellos ein geschicht 
licher Zusammenhang. Es war durchaus kein Zufall, daß das Ge 
spenst des Aristoteles in Frankreich 1 ) in dem gleichen Zeitpunkt, zu 
Beginn des XIII. Jahrhunderts, sowohl die Torwächter der Kirche wie 
die der Synagoge mit Furcht und Schrecken erfüllte. In späterer Zeit 
gelang es spitzfindigen dominikanischen Theologen von der Art eines 
Albertus Magnus oder Thomas von Aquino, die heidnischen Philo 
sophen zahm zu machen und sie sogar vor den Kirchenwagen zu span 
nen. Den jüdischen Gelehrten wollten hingegen solche Versuche einer 
Versöhnung von Glauben und Vernunft nicht gelingen, der klaffende 
Abgrund zwischen Religion und Philosophie blieb unüberbrückt und 
der Kampf der durch ihn getrennten Geister dauerte fast ein ganzes 
Jahrhundert fort. 
In seiner ursprünglichen Phase drehte sich der Streit ausschließ 
lich um die Lehren des „jüdischen Aristoteles“, um Maimonides. f)ie 
Ironie des Schicksals wollte es, daß gerade diejenige Lehre, deren 
Hauptziel die Versöhnung von Glauben und Vernunft war, zu einem 
entscheidenden Zusammenstoß der beiden Prinzipien führen sollte. 
Noch zu Lebzeiten des Maimonides gab die weitherzige Gesinnung des 
Schöpfers der „Mischne-Thora“ sowie dessen Absicht, die Geister vom 
1 ) Die aus Spanien nach Frankreich gedrungenen Abschriften der Werke des 
Aristoteles und seiner Kommentatoren riefen in den Geistern eine Gärung her 
vor und die Kirchenbehörden beeilten sich, das Studium dieser Werke unter 
strengstes Verbot zu stellen: „Non legantur libri Aristotelis de metaphysica et 
naturali philosophia“ (um 1210).
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.