Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Anhang 
Der Geschichtsschreiber, den die dogmatischen Fragen unmittelbar 
nichts angehen, vermag schon allein aus dem Vorhandensein des skep 
tisch angehauchten Sendschreibens des Rabbiners von Barcelona über 
aus wertvolle positive Schlüsse zu ziehen. Also war es keineswegs Akrisch, 
der im XVI. Jahrhundert den „chasarischen Briefwechsel“ erdichtet hat, 
vielmehr war er schon im XI. Jahrhundert zusammen mit dem Briefe 
aus Konstantinopel in Abschriften verbreitet, und es stützten oder be 
riefen sich auf ihn drei maßgebende Führer der spanischen Ju- 
denheit: Albarzeloni, Jehuda Iialevi und Abraham ihn Daud, von 
denen der letztere sogar persönlich die Nachkommen der Chasaren, 
vielleicht sogar der chasarischen Könige in Toledo kennengelernt 
halte (die betreffenden Wendungen im „Sefer ha’Kabbala“ machen 
nämlich die eine wie die andere Deutung möglich). Folglich 
sind alle drei chasarischen Urkunden echt. Zweifel an ihrer Echtheit 
erregen auf den ersten Blick nur die einleitenden und die Schlußsätze 
des Briefes des Chasdai, in denen sich eine brennende messianische Sehn 
sucht widerspiegelt, wie sie eher für das XVI. Jahrhundert charakteri 
stisch zu sein scheint. Bedenkt man indessen, welche Töne schon in der 
ersten Hälfte des XI. Jahrhunderts in demselben Spanien der Dichter 
Ihn Gabirol in seinen die messianische Sehnsucht zum Ausdruck brin 
genden Gedichten anschlug, so kann die Tatsache, daß auch Chasdai, der 
jüdische Minister des vorhergehenden Jahrhunderts, von gleichen Ge 
fühlen beseelt war, keineswegs wundernehmen. 
Die umstrittene Frage von der Zeit der Bekehrung des Chasarenkönigs 
zum Judentum kann aber auf Grund der folgenden Erwägungen der 
Lösung näher gebracht werden. Jehuda Halevi spricht in seinem um 
n4o abgefaßten „Buche Kusari“ von der „4oo Jahre früher“, d. i. um 
74o, erfolgten Bekehrung der Chasaren. Andererseits ist in dem Briefe 
des Königs Joseph davon die Rede, daß Bulan zum Judentum nach der 
Einnahme von Ardebil in Armenien übertrat, die, wie die Orientalisten 
festgestellt haben, in das Jahr 781 fällt 1 ). Der arabische Schriftsteller 
Massudi weiß seinerseits davon zu berichten, daß die jüdische Religion 
im Lande der Chasaren „seit der Zeit Harun al R.aschids“, d. i. seit dem 
Ende des VIII. Jahrhunderts, vorherrschend gewesen sei. Aus allen 
diesen chronologischen Angaben ergibt sich nun die Möglichkeit, die Ein 
bürgerung des Judentums im Chasarenreiche mit hoher Wahrscheinlich 
keit in den Zeitraum zwischen 740 und 790 zu verlegen. 
!) Auf Grund einer handschriftlichen Lesart des Briefes des Joseph, in dem 
es heißt, daß die Bekehrung der Chasaren „34o Jahre vor“ der Abfassung 
dieses Briefes stattgefunden hätte, glaubte Harkavy das Ereignis in das Jahr 620 
verlegen zu müssen. Indessen ist dieser Ansatz mit den sonst bekannten Tatsachen 
schwer in Einklang zu bringen: es liegt hier offenbar eine korrumpierte Les 
art vor. 
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