Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Anhang 
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ben, wodurch sich diese aus glaubwürdigen Dokumenten allmählich in 
frei erdichtete literarische Erzeugnisse verwandelten. 
Dies war der Tatbestand bis zum Jahre 1912, als der Entdecker der 
Genisa, Schechter, jenes unter den schadhaften Akten dieser Sammlung 
aufgefundene wichtige Bruchstück veröffentlichte (in JQR., Bd. III), 
dessen Inhalt bereits oben im Text wiedergegeben ist ($ 29). Nun war 
es nicht mehr eine neue Lesart des Briefes des Königs Joseph, die zutage 
gefördert wurde, sondern eine unabhängig von diesem Schreiben und 
gleichzeitig mit ihm entstandene Urkunde: ein Brief, den um 950 ein 
vornehmer chasarischer Jude aus Konstantinopel an einen anderen an 
gesehenen Juden geschrieben hat (vielleicht gar an denselben Ghasdai ibn 
Schaprut), dessen Boten um jene Zeit in der byzantinischen Hauptstadt 
weilten. Von dem Briefe des Joseph unterscheidet sich dieses Schreiben 
vor allem dadurch, daß die poetische Sage von der Bekehrung des Cha- 
sarenkönigs zum Judentum hier als eine reale politische Tatsache er 
scheint (statt sinnreicher Traumvisionen die Tatsache der Erwählung eines 
jüdischen Feldherrn zum König), und überdies sind in diesem Schreiben 
die dem Untergänge des Ghasarenreiches vorangehenden Ereignisse der 
russisch-byzantinisch-chasarischen Geschichte in einem durchaus einleuch 
tenden Zusammenhang dargestellt. Wir würden über diese Ereignisse so 
wie über die Mission des Briefschreibers in Konstantinopel noch viel mehr 
erfahren haben, wenn die in der Genisa aufgefundene Urkunde an ihrem 
Anfang und Ende nicht schadhaft wäre. Aber auch in ihrem de 
fekten Zustande bietet sie eine Bestätigung der in dem Antwortschreiben 
des Joseph enthaltenen Mitteilungen und indirekt auch der Tatsache der 
Anfrage von seiten des Ghasdai, wobei sie zugleich diesen Briefwechsel 
in nicht unwesentlichen Punkten ergänzt, wie dies aus den oben ($ 29) 
im Text und in den Anmerkungen angeführten Parallelen zu ersehen ist. 
Woran es noch fehlte, um die Echtheit der in Frage kommenden 
Urkunden ihrem Hauptinhalte nach vor jeder Anzweiflung sicherstellen 
zu können, war das Zeugnis eines Schriftstellers, der der Zeit der Ab 
fassung dieser Urkunden näher gestanden hätte als Jehuda Halevi oder 
Ibn Daud. In aller jüngster Zeit ist nun auch ein solcher Zeuge ausfindig 
gemacht worden. Der Jerusalemer Forscher R. Simcha Assaf veröf 
fentlichte nämlich vor kurzem (in der Zeitschrift „Jeschurun“, 1924, 
S. n3—117 des hebräischen Teiles) einen Auszug aus einem im Briti 
schen Museum aufbewahrten Manuskript, das bis dahin unpubliziert ge 
bliebene Teile des talmudischen Kompendiums „Sefer ha’ittim“ enthält, 
welches um 1100, d. h. etwa i4o Jahre nach dem Austausch der die 
Chasaren betreffenden Schreiben, von dem spanischen Rabbiner Jehuda 
Albarzeloni abgefaßt worden ist. Dieser Rabbiner von Barcelona kommt 
in einem gelehrten Schreiben, das die Frage über die Beteiligung an dem 
Opferdienste der Fremdstämmigen behandelt, beiläufig auch auf die Cha 
saren zu sprechen. Anläßlich der das chasarisch-jüdische Reich betref 
fenden Überlieferung läßt sich Albarzeloni seinem Korrespondenten ge- 
31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. IV
	        
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