Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Anhang 
bei der Behandlung der sogenannten „talmudischen Epoche“ dogmatische 
Tendenzen entgegen, doch hat er auch bei dieser Wanderung gar häu 
fig weit klaffende Abgründe, jähe Risse in der Kette der geschicht 
lichen Entwicklung zu überwinden, die dem Geschichtsschreiber nicht 
weniger schmerzlich sind, als dem Künstler ein Riß mitten in dem wohl 
gestalteten Bilde. Die früheren Geschichtsschreiber pflegten diese klaf 
fenden Lücken durch literarischen Stoff auszufüllen, soweit er für die 
gegebene Zeit und den gegebenen Ort in Betracht kam, ohne dabei zu 
bedenken, daß sich das Leben der geistigen Elite mit dem des Volkes 
durchaus nicht deckt. So haben denn solche Forscher, wie L. Rapoport 
(Biographie des Verfassers des „Aruch“, des Nathan aus Rom), Zunz 
(Lebensbeschreibung des Raschi, das Werk über die synagogale Poesie), 
Weiß (über die Schule der Tossafisten und den frühen Rabbinismus), 
Munk, Geiger, Joel, Guttmann, Bernfeld und Neumark (in ihren Un 
tersuchungen zur Poesie und Philosophie der Zeit der spanischen Re 
naissance) in dem Bereiche der Geschichte unserer frühen mittelalter 
lichen Literatur Hervorragendes geleistet. Weniger erforscht ist hingegen 
die soziale Geschichte, deren Erforschung auch viel größere Schwierig 
keiten bietet. Graetz läßt auch in dem V. und VI. Bande seiner Geschichte, 
wie gewöhnlich, die sozialen Verhältnisse hinter den Fortschritten der 
Literatur gänzlich zurücktreten und hält sich schon bei der Einteilung 
des Stoffes an die mittelalterliche Klassifikation des Ibn Daud („Erstes 
rabbinisches Zeitalter“, „Zweites rabbinisches Zeitalter“ usf.). Die epi 
graphischen Daten läßt er unbeachtet und überdies ist viel neues Material 
ja erst nach seinem Tode zur Entdeckung gekommen (so die nachträg 
lich bekannt gewordenen chronikartigen Martyrologien, die „Megillath 
Achimaaz“, das jüngst aufgefundene „Chasarische Schreiben“ und son 
stige Urkunden). In manchen Punkten haben die Untersuchungen von 
Graetz durch die späteren Monographien eine Berichtigung oder Ergän 
zung erfahren. Vieles von dem, was Graetz sogar in den ihm vorliegen 
den Quellen unbeachtet gelassen hat, hat Georg Caro in dem ersten Bande 
seiner „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter“ 
(1908) nachgetragen. Überaus wertvolles Material für die Wirtschafts 
geschichte schälte außerdem aus den rabbinischen Responsen M. Hoff- 
mann in seiner Untersuchung „Der Geldhandel der deutschen Juden wäh 
rend des Mittelalters“ (Lpz. 1910) heraus, der auch auf Grund der zeit 
genössischen Responsen zusammengestellte Regesten beigegeben sind. Das 
berühmte Werk von Güdemann („Geschichte des Erziehungswesens und 
der Kultur der abendländischen Juden während des Mittelalters“, Bd. I 
bis III, Wien 1880—1888) dient schon längst als ein sicherer Führer 
durch die Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Kultur in Mittel 
europa und Italien. Die Werke von Berliner und Vogelstein-Rieger (beide 
unter dem Titel „Geschichte der Juden in Rom“, 1893 und 1896 er 
schienen) entwerfen ein umfassendes Bild des jüdischen Lebens im mit 
telalterlichen Rom. Bei Berliner ist das Material nur wenig bearbeitet,
	        
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