Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 55. Osteuropa: Polen und Rußland 
Um 1200 nannten die Juden in der Nähe von Breslau ein ganzes^ 
Dorf (villa) ihr eigen. 
Daß die im Kiewschen Rußland im XI. Jahrhundert bestehende 
jüdische Kolonie (oben, § 3o) auch zu Beginn des folgenden Jahr 
hunderts in ihrer Entwicklung, wenigstens in Kiew selbst, nicht inne 
hielt, ist uns durch russische Annalen bezeugt. Die Juden werden 
hier im Zusammenhang mit Volksunruhen, die in Kiew während des 
nach dem Tode des Großfürsten Swjatopolk II. (m3) eingetre 
tenen Interregnums ausgebrochen waren, ausdrücklich erwähnt. Das 
Volk von Kiew berief nämlich den allgemein beliebten Fürsten Wla 
dimir Monomach auf den großfürstlichen Thron; da dieser jedoch 
unschlüssig war und seinen Einzug hinausschob, kam es in der Re 
sidenzstadt zu schweren Tumulten. Die rasende Menge plünderte Haus 
und Hof der höheren Beamten (der Häupter der Hundert- und 
Tausendschaften), aber auch die Häuser der Juden. Schon ballten 
sich die Wolken über dem Haupte der verwitweten Fürstin, über den 
Bojaren und sogar über den Klöstern, doch setzte die Ankunft des- 
neuen Großfürsten den Ausschreitungen ein Ziel. Aus diesem Be 
richt ist zu entnehmen, daß die jüdische Kolonie im damaligen Kiew 
einen ansehnlichen Platz einnahm. Der Großfürst ließ ihr seine Pro 
tektion angedeihen, da er die finanziellen Dienste der reichen Ju 
den, denen er wohl auch die Eintreibung der Steuern und die Zoll-, 
erhebung zu übertragen pflegte, nicht entbehren konnte. Nur so wird 
es erklärlich, warum das nach dem Tode Swjatopolks in Aufruhr 
geratene Volk nicht nur an den fürstlichen Beamten, sondern auch 
an den Juden, den Beauftragten des fürstlichen Fiskus, Rache nahm. 
Welche Folgen diese erste Judenhetze für die jüdische Kolonie in 
Kiew nach sich zog, bleibt unbekannt. Aus den russischen Annalen ist 
jedenfalls zu ersehen, daß die Juden auch in den folgenden Jahrzehn 
ten in der russischen Hauptstadt ansässig waren. Im Jahre 1124 er 
litten sie großen Schaden durch eine Feuersbrunst, der ein großer 
Teil der Stadt zum Opfer fiel. In den aus jener Zeit (ii46 bis 
ii5i) stammenden russischen Chroniken wird beiläufig das „Juden 
tor“ in Kiew erwähnt, was ,von dem Bestehen eines besonderen jü 
dischen Stadtviertels zeugt. Als ein wichtiger Knotenpunkt des West 
europa mit dem Schwarzmeergebiet und Asien verbindenden Han 
delsverkehrs mußte Kiew auch jüdische Kaufleute in großer Zahl 
herbeilocken. So wird denn die Stadt von den beiden jüdischen Rei
	        
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