Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Alte und neue Kolonien 
Byzanz fühlte sich nun die Judenheit viel weniger gehemmt als in der 
ehemaligen mächtigen Despotie, der Hochburg des griechisch-christ 
lichen Judenhasses. Die Kaiser aus der Komnendynastie, die keinen 
Anstand nahmen, während der Kreuzzüge sogar die Muselmanen ge 
gen die lateinischen Christen mobil zu machen, hatten am wenigsten 
Grund, im Namen des Kreuzes gegen die Juden vorzugehen. Von 
dem verhältnismäßig ruhigen Leben der byzantinischen Juden zeugt 
auch das Schweigen der Chronisten, die größere Verfolgungen sonst 
stets zu verzeichnen pflegten. Überdies wissen wir von dem bereits 
mehrfach erwähnten Benjamin, daß im XII. Jahrhundert die Zahl 
der jüdischen Gemeinden im Kaiserreiche bedeutend zugenommen 
hatte. 
Aus den dunklen Jahren des ersten Kreuzzuges dringt zu uns eine 
dumpfe Nachricht 1 ) über messianische Hoffnungen, die unter den 
byzantinischen Juden eine weit um sich greifende Bewegung aus 
lösten. Es ist schwer festzustellen, ob diese Bewegung schon gleich 
nach der Verbreitung der ersten Nachrichten über den Zug der Chri 
sten aus dem Westen nach Palästina und über das von ihnen in den 
jüdischen Gemeinden der Rheingegend angerichtete Unheil oder aber 
erst dann zum Durchbruch kam-, als die jüdischen Flüchtlinge aus 
Deutschland und die über Ungarn heranflutenden Kreuzfahrerbanden 
gleichsam als ein leibhaftiges Zeugnis des beginnenden „Weltge 
richts“ in Byzanz selbst auf tauchten. Gegen Sommerende des Jahres 
1096 waren jedenfalls die jüdischen Gemeinden von Byzanz, insbe 
sondere die von Saloniki und Konstantinopel, bereits von einer ge 
waltigen Bewegung ergriffen. Der Drang der Kreuzritter nach den 
geheiligten Stätten Palästinas und ihr erster blutiger Zug durch die 
jüdischen Gemeinden des Westens schienen untrügliche Kennzeichen 
der „vormessianischen Leiden“ („Cheble Moschiach“) zu sein. In- 
!) Diese Nachricht wird uns durch das in der Genisa von Kairo entdeckte 
Bruchstück eines Briefes des byzantinischen Juden Menachem ben Elias vermittelt, 
der ihn allem Anscheine nach in der zweiten Hälfte" des Jahres 1096 abfaßte. 
Die von Neubauer gemachte Entdeckung (1896) ist von D. Kaufmann kritisch 
untersucht worden (1898), gibt aber der wissenschaftlichen Forschung noch im 
mer manche Rätsel auf (s. Bibliographie). Im Gegensatz zu der Ansicht von 
J. Mann („Ha’tekufa“, Bd. XXIII) neigen wir in unserer Darstellung mehr der 
Meinung von D. Kaufmann zu, derzufolge unter dem im Fragment vorkommen 
den Worte „Aschkenasim“ sowohl die aus Deutschland nach Byzanz gekommenen 
jüdischen Flüchtlinge als auch die von dort herangerückten Kreuzfahrer zu ver 
stehen sind.
	        
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