Alte und neue Kolonien
Byzanz fühlte sich nun die Judenheit viel weniger gehemmt als in der
ehemaligen mächtigen Despotie, der Hochburg des griechisch-christ
lichen Judenhasses. Die Kaiser aus der Komnendynastie, die keinen
Anstand nahmen, während der Kreuzzüge sogar die Muselmanen ge
gen die lateinischen Christen mobil zu machen, hatten am wenigsten
Grund, im Namen des Kreuzes gegen die Juden vorzugehen. Von
dem verhältnismäßig ruhigen Leben der byzantinischen Juden zeugt
auch das Schweigen der Chronisten, die größere Verfolgungen sonst
stets zu verzeichnen pflegten. Überdies wissen wir von dem bereits
mehrfach erwähnten Benjamin, daß im XII. Jahrhundert die Zahl
der jüdischen Gemeinden im Kaiserreiche bedeutend zugenommen
hatte.
Aus den dunklen Jahren des ersten Kreuzzuges dringt zu uns eine
dumpfe Nachricht 1 ) über messianische Hoffnungen, die unter den
byzantinischen Juden eine weit um sich greifende Bewegung aus
lösten. Es ist schwer festzustellen, ob diese Bewegung schon gleich
nach der Verbreitung der ersten Nachrichten über den Zug der Chri
sten aus dem Westen nach Palästina und über das von ihnen in den
jüdischen Gemeinden der Rheingegend angerichtete Unheil oder aber
erst dann zum Durchbruch kam-, als die jüdischen Flüchtlinge aus
Deutschland und die über Ungarn heranflutenden Kreuzfahrerbanden
gleichsam als ein leibhaftiges Zeugnis des beginnenden „Weltge
richts“ in Byzanz selbst auf tauchten. Gegen Sommerende des Jahres
1096 waren jedenfalls die jüdischen Gemeinden von Byzanz, insbe
sondere die von Saloniki und Konstantinopel, bereits von einer ge
waltigen Bewegung ergriffen. Der Drang der Kreuzritter nach den
geheiligten Stätten Palästinas und ihr erster blutiger Zug durch die
jüdischen Gemeinden des Westens schienen untrügliche Kennzeichen
der „vormessianischen Leiden“ („Cheble Moschiach“) zu sein. In-
!) Diese Nachricht wird uns durch das in der Genisa von Kairo entdeckte
Bruchstück eines Briefes des byzantinischen Juden Menachem ben Elias vermittelt,
der ihn allem Anscheine nach in der zweiten Hälfte" des Jahres 1096 abfaßte.
Die von Neubauer gemachte Entdeckung (1896) ist von D. Kaufmann kritisch
untersucht worden (1898), gibt aber der wissenschaftlichen Forschung noch im
mer manche Rätsel auf (s. Bibliographie). Im Gegensatz zu der Ansicht von
J. Mann („Ha’tekufa“, Bd. XXIII) neigen wir in unserer Darstellung mehr der
Meinung von D. Kaufmann zu, derzufolge unter dem im Fragment vorkommen
den Worte „Aschkenasim“ sowohl die aus Deutschland nach Byzanz gekommenen
jüdischen Flüchtlinge als auch die von dort herangerückten Kreuzfahrer zu ver
stehen sind.