Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

alteingesessenen gallisch-römischen Bevölkerung vermischten und sich 
zum Christentum, bald in der Form des Arianismus, bald in der des 
Katholizismus, bekehrten. In dieser Zeit der Anarchie gelangt die 
Kirche zu immer höherem Ansehen. Die den Händen des kraftlos 
gewordenen Staates entglittene Gesetzgebungsgewalt greift jetzt der 
christliche Klerus auf. Die Konzile der Bischöfe und Metropoliten 
ßpielen nunmehr die Rolle von gesetzgebenden Vertretungen. So ver 
fügte z. B. das in der Stadt Vannes (Venetia in der Bretagne) im 
Jahre 465 zusammengetretene Kirchenkonzil, das sich mit der For 
mulierung von allerlei Regeln oder „Kanons“ für Geistliche und 
Laien befaßte, daß die Angehörigen des geistlichen Standes (clerici) 
weder bei den Juden speisen, noch diese zu ihren eigenen Mahlzeiten 
laden sollten, da es nämlich ungebührlich und für die Kirche be 
leidigend (sacrilegum) wäre, wenn christliche Kleriker von den 
Juden Speise und Trank annähmen, solange diese die den Christen 
gestattete Nahrung als unrein verpönten: „hätte es doch ansonst den 
Anschein, als stünden die Juden über den Klerikern“. 
Aus dieser Verfügung, der später eine Reihe anderer auf die Ab 
sperrung der Christen von den Juden abzielenden Verordnungen folg 
ten, ist zu ersehen, daß um jene Zeit nicht nur Laien, sondern auch 
geistliche Würdenträger mit den Juden freundschaftlich verkehrten, 
sie gern besuchten und sie auch in ihrer eigenen Häuslichkeit als 
Gäste empfingen. Sogar die Hauptstützen der Kirche, die Bischöfe, 
hatten „ihre Juden“, deren Hilfe sie in geschäftlichen Angelegenhei 
ten in Anspruch nahmen. So empfiehlt z. B. der bekannte Staatsmann 
und Schriftsteller, der Bischof von Clermont Sidonius Apollinaris, 
im Jahre 472 dem Bischof von Tournay seinen jüdischen Ver 
trauensmann, wobei er zu seiner eigenen Rechtfertigung hinzufügt, 
daß man auf die Dienste eines Juden schon aus dem Grunde nicht 
verzichten dürfe, weil dieser, solange er lebe, sich noch immer zum 
wahren Glauben bekehren und so seine Verirrung wettmachen könne; 
überdies — bemerkt Sidonius in seinem Schreiben weiter — pflegen 
diese Menschen ihre Geschäfte redlich zu führen (solent hujusmodi 
homines honestas habere causas), weshalb sein Freund, der Bischof, 
sich für den arbeitsamen (laboriosus) Juden mit gutem Gewissen ver 
wenden dürfe, wenn er auch dessen Unglauben verdammen müsse. 
In der Seele des Sidonius selbst kämpfte offenbar der feingebildete 
gallisch-römische Patrizier mit dem katholischen Bischof. Indessen
	        
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