Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 49. Der Kodex „Mischne-Thora“ 
das spezielle Studium des Talmud entbehrlich machte, andererseits 
aber darin, daß es vieles von dem, was im Talmud selbst noch pro 
blematisch blieb, auf präzise Gesetzesformeln brachte. Durch seine 
schöpferische Bewältigung des Wirrsals des Talmud rettete Mai- 
monides viele von dessen „Zweigen“ vor dem unausbleiblichen Ver 
dorren, indem er sie mit dem Stamm des Judaismus, mit seinen 
„Wurzeln“, zu einer organischen Einheit verband. Den konservativ 
eingestellten Rabbinern fiel indessen an dem Werke des Maimonides 
mehr die Tendenz zur Kürzung des Gesetzes auf, und so waren sie 
unermüdlich bestrebt, wie dies aus den Gesetzbüchern der späteren 
Zeit zu ersehen ist, die „Zweige“ der Vorbeugungsvorschriften immer 
üppiger wachsen zu lassen. 
Der Eindruck, den die Veröffentlichung des Kodex des Maimoni 
des auf die verschiedenen Volkskreise machte, war durchaus nicht 
einheitlich. Die einen erblickten darin einen neuen, vollkommeneren 
Talmud, den jeder Rabbiner und Gesetzeskundige zur Richtschnur zu 
nehmen hätte; die anderen betrachteten hingegen diesen neuen Tal 
mud als ein Werk, das nur dazu geeignet sei, die Autorität des alt- 
ehrwürdigen babylonischen Talmud herabzusetzen. Man machte dem 
Verfasser zum Vorwurf, daß er das Talmudstudium zu unterbinden 
gedenke, dem Freidenkertum huldige, wie dies angeblich aus dem 
ersten, die Dogmenlehre behandelnden Buch seines Kodex zu ersehen 
sei, und schließlich, daß er nach eigenem Gutdünken Fragen ent 
scheide, die in der rabbinischen Literatur als umstritten gälten. Diese 
Vorwürfe wurden vornehmlich unter den Anhängern des Altherge 
brachten laut, von der Art des Bagdader Gaons Samuel ben Ali, der 
in Maimonides überdies auch noch einen seine geistliche Macht über 
die Gemeinden des Orients untergrabenden Rivalen sah (unten, 
§ 5g). Im ägyptischen Alexandrien legte das dortige Rabbinat Ver 
wahrung gegen die Tendenz des Maimonides ein, das Gesetz in mil 
derndem Sinne auszulegen und „das Verbotene zu gestatten“. Die 
Glaubenseiferer ließen sich zu schroffen Ausfällen gegen den Ver 
fasser des neuen Kodex hinreißen, doch trat der Weise von Kairo 
aus seiner Reserve nur selten heraus und pflegte alle Anschuldi 
gungen und Vorwürfe in sanftestem Tone zurückzuweisen. 
Besonders scharfe Meinungsverschiedenheiten rief der Kodex des 
Maimonides in Europa, unter den Gelehrten der Provence hervor'. 
Die einen begrüßten dieses phänomenale Werk mit heller Begeiste- 
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