Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 49. Der Kodex „Mischne-Thora“ 
der theoretischer Untersuchungen ganz in ihrem Elemente fühlten, 
durchaus aber nicht diejenigen, die auf diesen vielverschlungenen 
Wegen bestimmte Richtlinien für das praktische Leben zu finden be 
strebt waren. So setzte sich denn Maimonides zum Ziele, dieses Laby 
rinth in ein architektonisch vollendetes Bauwerk zu verwandeln, die 
fast unübersichtliche Sammlung von Einzelansichten und sich wider 
sprechenden Meinungsäußerungen in einen systematischen Kodex um 
zubauen. Überdies lag ihm nicht zuletzt daran, den Schriftkundigen 
die von ihnen auf das Studium des Talmud und des rabbinischen 
Schrifttums so verschwenderisch aufgewandte Mühe nach Möglich 
keit zu ersparen und ihre frei gewordene geistige Energie auf das Ge 
biet der Wissenschaft und der Philosophie zu lenken. „Ich wünschte 
— sagt Maimonides in der Vorrede zu seinem Kodex —, dieses Werk 
könnte als ein lückenloses Kompendium der mündlichen Lehre mit 
samt allen seit der Zeit unseres Meisters Moses bis zum Abschluß der 
Gemara angehäuften Verordnungen, Bräuchen und Gesetzen dienen. 
Ich betitelte dieses Buch ,Mischne-Thora („Zweite Thora“, „Deu 
teronomium“) in der Voraussetzung, daß jeder, sobald er sich mit 
der schriftlichen Lehre (der Bibel) vertraut gemacht haben wird, 
imstande sein werde, unverzüglich an das Studium dieses Handbuches 
heranzutreten, aus dem er, ohne irgendein anderes Buch dazwischen 
gelesen zu haben (worunter offenbar der Talmud gemeint ist), die 
Kenntnis der gesamten mündlichen Lehre wird schöpfen können“. 
Dieser epochemachende Kodex, den der Verfasser im Jahre 1180 
zum Abschluß brachte, war nicht mehr arabisch, sondern hebräisch, 
und zwar in klassischem Mischnastil abgefaßt. Er zerfällt in vierzehn 
Bücher, deren erstes, das den Untertitel „Sefer ha’mada“ („Buch der 
Erkenntnis“) trägt, der Darstellung und philosophischen Beleuch 
tung aller Dogmen des Judaismus gewidmet ist. Es war dies der erste 
Versuch, die jüdische Dogmenlehre, die von den sich an die juristi 
sche und rituelle Seite des Judaismus klammernden Talmudisten so 
sehr vernachlässigt wurde, in einen lichtvollen systematischen Zu 
sammenhang zu bringen. Hierbei legt Maimonides die Grundlagen der 
jüdischen Glaubenslehre in durchaus rationalistischem Geiste aus. 
Bei der Darlegung der Grundprinzipien der Gotteserkenntnis betont 
er mit besonderem Nachdruck, daß jegliche an das Sinnliche strei 
fende Vorstellung aus diesem Bereiche gänzlich zu verbannen sei. 
Zu den Geboten der Ethik zählt er die Verpflichtung des Menschen,
	        
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