Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Juden Spaniens im XIL Jahrhundert 
Die Lehren des Judaismus — so läßt Halevi seinen Helden aus 1 - 
führen — beruhen nicht auf philosophischen Spekulationen, die auch 
leicht irregehen könnten, sondern auf den realen Tatsachen der Of 
fenbarung und auf dem von der Bibel überlieferten Zeugnis der Pro 
pheten. Diese Tatsachen, die sich vor den Augen Hunderttausender 
von Menschen abgespielt haben, in Zweifel zu ziehen, hieße soviel, 
wie die Glaubwürdigkeit der Geschichte überhaupt in Frage stellen. 
Die geschichtliche Religion der Offenbarung steht über der auf den 
Wegen der Vernunft erreichbaren natürlichen Religion. Den Israeliten 
hat sich Gott aus dem Grunde zuerst offenbart, weil sie vor den an 
deren Völkern ihre Empfänglichkeit für die Gotteserkenntnis an den 
Tag gelegt haben. In diesem Sinne heißen eben die Juden das aus 
erwählte Volk. Moses sprach zu Pharao: „Der Gott der Hebräer hat 
mich zu dir gesandt“, und nicht etwa „Der Schöpfer des Himmels 
und der Erde“, weil eine geschichtliche Tatsache viel beweiskräftiger 
ist, als jede abstrakte Wahrheit. Aus dem gleichen Grunde vernahm 
Israel am Sinai die Worte: „Ich bin dein Gott, der dich aus dem 
Lande Ägypten geführt hat“. So ist denn die Thora ein Kodex der 
nationalen Religion. Wäre Aristoteles gleich Moses eine unmittelbare 
Offenbarung des göttlichen Wortes zuteil geworden, so hätte sich 
sein Verstand nicht mit der Frage „abzuquälen“ brauchen, ob die 
Welt von Gott erschaffen oder ewig existierend sei. Alle der natür 
lichen Religion zugrunde liegenden „Vernunftgesetze“ sind nichts als 
Vorstufen zu den Geboten der göttlichen Thora. Während die Gesetze 
der Moral nur die Grundbedingungen für das menschliche Zusam 
menleben darstellen, sind die Gesetze, die den Sabbat, die Feiertage 
oder die Beschneidung betreffen, sowie alle anderen national-reli 
giösen Thoravorschriften übervernünftigen Ursprungs und besitzen 
eine weit über jede Nützlichkeitsrücksicht hinausgehende Bedeutung. 
Der Unterschied zwischen dem Judentum einerseits und dem Islam 
und Christentum andererseits besteht darin, daß diese von ihren Be 
kenn ern nur die Anerkennung des einen oder anderen Dogmas des 
Glaubens fordern, während der Jude seine Religion in seinen Hand 
lungen zu bekennen verpflichtet ist. Die Gesetze und Riten, deren 
Sinn für die bloße Vernunft unergründlich ist, sind ein unentbehr 
liches Mittel für die Einbeziehung aller Lebensäußerungen in die 
Sphäre der Religion, durch die sie geheiligt und vergeistigt werden. 
Nur dank dieser eigenartigen geistigen Zucht vermochte sich das jü-
	        
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