Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Juden Spaniens im XII. Jahrhundert 
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auch dort gönnt man uns keine Ruhe“ — so klagt er, auf die Flucht 
der Juden aus den zerstörten Gemeinden des Südens nach dem christ 
lichen Kastilien anspielend („Aje nebuoth nebiim kedumim?“). Be 
zeichnender sind aber für Abraham ihn Esra seine gereimten Psal 
men, in denen er die Majestät Gottes preist oder einzelne Episoden 
aus der ihm heiligen Geschichte Israels besingt Seinen Begriff von 
der besonderen Bestimmung der hebräischen Poesie vermittelt der 
folgende von ihm stammende Sinnspruch: „Die Ismaeliter verherrli 
chen in ihren Versen Liebe und Leidenschaft, die Edomiter Kriege 
und Rachetaten, die Jawanim (Griechen) sinnreiche Abenteuer, die 
Inder dichten Parabeln und Rätsel, die Juden aber den Allmächtigen 
preisende Hymnen“. Desungeachtet verschmähte es Ibn Esra nicht, 
auch Gedichte rein weltlichen Inhalts zu schreiben, die allerdings 
mehr von Scharfsinn als von dichterischem Erleben zeugen. Eine be 
sondere Vorliebe hatte er auch für Epigramme und „Rätsel“ (Chi- 
doth). Er galt als Meister der Verskunst und beherrschte sie in der 
Tat in souveräner Weise. Eine Volkssage weiß davon zu erzählen, wie 
Ibn Esra einst dem großen Halevi aus einer schweren dichterischen 
Verlegenheit heraushalf. Dieser soll nämlich eines Tages beim Dich 
ten eines alphabetischen Akrostichons beim Buchstaben Resch (R) 
steckengeblieben sein, da ihm nichts Rechtes einfallen wollte. Voll 
Unmut legte er die Feder aus der Hand und suchte im Schlafe Er 
holung. Inzwischen trat ein Wanderer in sein Arbeitszimmer, der beim 
Anblick des liegengelassenen Manuskripts, ohne lange zu überlegen, 
die fehlende R-Zeile hinzuschrieb. Als Halevi erwachte und das Ma 
nuskript wieder zur Hand nahm, rief er voll Begeisterung aus: „Dies 
hat entweder ein Engel fertigbringen können oder Abraham ibn 
Esra!“ — Die Geschichte ist noch mit manchen anderen, völlig un 
wahrscheinlichen Einzelheiten ausgeschmückt, doch trifft die Volks 
phantasie den Nagel auf den Kopf: als Meister der Form stand Ibn 
Esra in seiner Dichtkunst sogar einem Jehuda Halevi nicht nach; und 
dennoch vermochte er weder die Höhen der lyrischen Begeisterung 
des „Zioniden“-Sängers noch die bezaubernde Anmut seiner Versbil- 
dung zu erreichen. 
Der letzte große Dichter der spanischen Renaissancezeit war Je 
huda Alcharisi (um n65—1225). Aus Spanien gebürtig (es wird 
vermutet, daß seine Heimatstadt Barcelona war, wohin seine Eltern 
aus Sevilla nach Verheerung dieser Stadt durch die Almohaden über-
	        
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