Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Periode der Kolonisierung 
lichkeit Christi und Gottes, nicht aber deren Wesensgleichheit 
gelten ließ, weshalb Theodorich bei den orthodoxen Katholiken als 
Ketzer verrufen war. Darauf ist zum Teil auch seine Duldsamkeit 
den Juden gegenüber zurückzuführen, die das römische Gesetz den 
Ketzern gleichstellte. Wiewohl der Kodex des Theodosius im großen 
und ganzen nach wie vor in Kraft blieb, brachte man jetzt in der 
Praxis der Autonomie der jüdischen Gemeinden größere Achtung 
entgegen. Die Sphäre der jüdischen Gerichtsbarkeit wurde erwei 
tert „Angesichts dessen, daß die Juden nach ihrem eigenen Gesetze 
leben, müssen sie zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten auch eigene 
Richter besitzen, die bei ihnen zugleich als religiöse Autoritäten gel 
ten“ — so heißt es in einem der Edikte des Theodorich. Es war dies 
übrigens nur eine Folge jener allgemeinen Verhältnisse, unter de 
nen auch die Goten neben der römischen, staatlichen Gerichtsbarkeit 
ihre eigene Rechtsprechung beibehalten durften. Auf ein Rittgesuch 
der Juden von Genua hin bekräftigte der König ihre alten Privi 
legien, indem er erklärte, daß er „in die Erhaltung uralter Rechte 
gern einwillige“. Und doch kommt auch in den Erlassen des Theo 
dorich nicht selten das für diese Epoche charakteristische Restreben 
zum Vorschein, die Juden zum „wahren Glauben“ zu bekehren. Die 
Dekrete dieses Königs wurden nämlich gewöhnlich von seinem ge 
lehrten Rerater, dem römischen Senator Cassiodor, verfaßt, der ein 
eifriger Christ war und in seinen letzten Lebensjahren die Minister 
würde mit der Mönchskutte vertauschte. Cassiodor pflegte nun manch 
mal die königlichen Erlasse pach Theologenart scharf zu würzen. So 
gab er z. ß. den Genueser, Juden, die um die Erlaubnis nachsuchten, 
ihre alte Synagoge zu renovieren, im Namen des Königs folgenden 
Bescheid (507 und 5n): „Warum, wünscht ihr euch etwas, was 
ihr eigentlich vermeiden solltet? Wiewohl wir euch die Genehmigung 
erteilen, tadeln wir euren aus Verirrung entspringenden Wunsch. 
Übrigens liegt es nicht in unserer Macht, über den Glauben zu ge 
bieten, denn man kann niemanden gegen seinen Willen gläubig ma 
chen“ 1 ). Infolge dieser Grundauffassung hielt man sich nach wie 
vor in aller Strenge an das alte Gesetz des Theodosius, demzufolge 
neue Synagogen nicht erbaut und lediglich alte, baufällig ge- 
!) „Quid appetitis, quae refugere deberetis? Damus quidem permissum, sed 
errantium votum laudabiliter improbamus. Religionem imperare non possumus, 
quia nemo cogitur ut credat invitus“. Cassiod. Var. II, 27. 
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