Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Kolonien im östlichen Europa 
benregent (Bek, Pech oder „Ischa“) stand. Alle Mitglieder der Regie 
rung und der gesamte Adel bekannten sich zum Judentum, während 
in den mittleren und niederen Bevölkerungsschichten der Islam, das 
Christentum und auch das Heidentum verbreitet waren. Ungeachtet 
dessen, daß die privilegierten Klassen der jüdischen Religion anhin 
gen, wurde doch die Gleichberechtigung aller Konfessionen in keiner 
Weise angetastet. So standen dem Chagan sieben Richter zur Seite, 
je zwei für Juden, Christen und Muselmanen und einer für die Hei 
den (nach einer anderen Version sollen es im ganzen neun Richter 
für alle Gruppen gewesen sein). Dank seiner günstigen Lage zwischen 
Ost und West gelangte das Land zu hohem wirtschaftlichen Wohl 
stand. Durch das Chasarenreich führte nämlich einer jener großen 
Handelswege, die Asien mit Europa verbanden. Der arabische Geo 
graph des IX. Jahrhunderts Ibn Chordadbe erwähnt in seinem „Buch 
der Straßen“, daß die jüdischen Kaufleute aus Persien, Armenien und 
dem Kaukasus „durch das Land der Slawen in der Nähe der Cha- 
sarenhauptstadt“ (an der Wolga) zu reisen pflegten, wobei ihr Weg 
zum Teil über das „Meer Dschordschan“ (Georgisches, d. i. Kaspi 
sches Meer) führte. Sein Zeitgenosse Ibn Scharsi berichtet in seinem 
„Buch der Länder“, daß die „vom Chasarischen zum Rumischen (vom 
Kaspischen zum Schwarzen) Meere“ Rauchwaren transportierenden 
slawischen Kaufleute auf ihrem Wege einen Handelspunkt in der 
„jüdischen“ Stadt Samkersch berührten, der auf der Halbinsel Ta 
man, in der Gegend des ehemaligen Bosporus (Kertsch), gelegen war. 
Die wichtige Rolle, die die Juden in dem damaligen internationalen 
Handelsverkehr spielten, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß 
sie an dem ganzen, von Persien über den Kaukasus nach der Krim 
und dem Kiewschen Rußland führenden Wege entlang überall ver 
streut waren. 
Gegen Ende des IX. Jahrhunderts erfuhr die jüdische Bevölkerung 
im Chasarenlande eine bedeutende Vermehrung durch Auswanderer 
aus Byzanz, die vor den Verfolgungen des Kaisers Basilius des Mace- 
doniers im neuentstandenen Reiche Schutz suchten. Die vor dem Tauf 
zwang geflüchteten Neuankömmlinge trugen in die ihnen stammesver 
wandten Kolonien den Geist der Empörung gegen die byzantinischen 
Despoten hinein, was die Feindseligkeit zwischen den jüdischen Ge 
bietern des Landes und dem Hofe von Konstantinopel noch mehr ver 
schärfen mußte. So ist denn die erste Hälfte des X. Jahrhunderts in 
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