Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Kolonien im östlichen Europa 
lassen; er soll auch Synagogen gegründet und der Regelung des Got 
tesdienstes besondere Aufmerksamkeit zugewandt haben. 
In dieser im Antwortschreiben des letzten chasarischen Königs Jo 
seph an Chasdai ibn Schaprut erhalten gebliebenen Volkssage tritt die 
ihr innewohnende religiöse Tendenz allzu deutlich zutage. Indessen 
wurde vor kurzem auch noch ein Bruchstück eines anderen, aus glei 
cher Zeit (aus dem X. Jahrhundert) stammenden Schriftstückes auf 
gefunden, in dem uns die Tatsache der Bekehrung des chasarischen 
Hofes zum Judentum in einer durchaus nüchternen Form überliefert 
wird. In dem Brief eines chasarischen Juden aus Konstantinopel 1 ) 
wird erzählt, daß von Verfolgungen heimgesuchte Juden aus verschie 
denen Ländern seinerzeit bei den noch heidnischen Chasaren Zuflucht 
gefunden hätten. Die Ankömmlinge vermischten sich dort bald mit 
den autochthonen Landeseinwohnern und wurden ihre treuen Waffen 
kameraden, hielten aber auch weiterhin an Beschneidung und Sabbat 
heiligung fest. Damals gab es bei den Chasaren noch kein angestamm 
tes Königshaus, zum König pflegte man vielmehr den tapfersten und 
siegreichsten Feldherrn zu erwählen. Einst wurde nun zum Gebieter 
des Landes ein jüdischer Feldherr ausgerufen, einer von denen, die 
sich den Chasaren ganz angeglichen hatten. Sein Weib und sein from 
mer Schwiegervater überredeten indessen den neuen König, sich of 
fen zur jüdischen Religion zu bekennen. Als darauf die „Könige Ma- 
cedoniens (von Byzanz) und Arabiens (die Kalifen)“, die die Chasaren 
zum Christentum und zum Islam zu bekehren trachteten, davon 
Kunde erhielten, daß an der Spitze des Chasarenreich.es ein Jude 
stehe, sandten sie zu den Chasaren ihre Boten und ließen ihnen sa 
gen: „Ist es denn möglich, daß ihr euch zum Glauben der von allen 
Völkern geknechteten Juden bekennen wollet?“ Da forderte der jü 
dische Gebieter „Weise“ aus der Mitte der Juden, der Griechen und 
der Araber auf, zu einer religiösen Disputation an seinem Hofe zu 
erscheinen. Als die Griechen hierbei für das Christentum in die 
Schranken traten, stießen sie auf die einmütige Abwehr der Ju 
den und Araber; den Arabern traten wiederum die Juden und die 
Griechen einhellig entgegen; als aber die jüdischen Gelehrten die Bi 
bel von Anfang an darzulegen begannen, fanden ihre Gegner keine 
Worte der Widerlegung, da sie ja selbst die Wahrheit der Heiligen 
Schrift anerkannten. Aus einer Höhle wurden dann die seit langem 
1 ) S. Anhang, Note 3. 
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