Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Italien und Byzanz (VIII—XI Jahrh.) 
Wanderers über seine Begegnungen und Wechselgespräche mit den 
Menschen geht ein unwiderstehlicher Zauber aus. Man mußte für- 
wahr nicht nur ein Moralprediger, sondern zugleich auch ein gottbe 
gnadeter Dichter sein, um so reden und ein solches Buch schreiben zu 
können, das als der Gipfel der gesamten Midraschliteratur emporragt. 
Der „Midrasch des Elias“ ist wohl nicht das einzige Werk dieser 
Art, das in dieser Epoche dem Boden von Italien und Byzanz ent 
sprossen war. Man nimmt an, daß in diesen Ländern zur gleichen 
Zeit auch noch der anonyme „Midrasch zu den Psalmen“ („Mi 
drasch Tehillim“ oder „Schocher-tob“) und ein von Tobia ben Elieser 
unter dem Titel „Lekach-tob“ zusammengestellter Midrasch zum Pen 
tateuch (auch unter dem Namen „Pesikta sutrata“: „Kleine Pe- 
sikta“ bekannt) verfaßt worden sind. Tobia soll, der Mutmaßung der 
neuesten Forschung zufolge, in Byzanz in der zweiten Hälfte des 
XI. Jahrhunderts gelebt haben und dürfte zur Zeit des ersten Kreuz 
zuges noch am Leben gewesen sein. 
Wie in Palästina, so fand auch hier das Midraschschrifttum seine 
unmittelbare Fortsetzung in der synagogalen Poesie oder dem „Piut“. 
Auf den „Darschan“ folgt der „Paitan“. Unter den Paitanim der 
frühesten Zeit nennt die Überlieferung Schefatia und Amitai, Ange 
hörige jener ruhmreichen Familie aus Oria, die in der Geschichte 
der Juden von Süditalien und Byzanz eine so hervorragende Rolle 
spielte (§§ 19—20). Eines seiner rührendsten Bußgebete soll Sche 
fatia, wie vermutet wird, anläßlich der vom Kaiser Basilius I. gegen 
Ende des IX. Jahrhunderts angestifteten Judenverfolgungen gedich 
tet haben; es beginnt mit den Worten: „Israel noscha“ und ist in 
die „Selichoth“ des zweiten Tages der letzten Woche vor Rosch- 
ha’schana auf genommen: 
„An deine Tore pochen wir, Gott, gleich Bettlern, 
Erhöre doch unser Flehen, du zuhöchst Thronender! 
Angst und bange ist uns vor unseren Bedrängern und Schmähern, 
So verlasse uns doch nicht, du Gott unserer Väter! 
Möge unsere Errettung allen offenbar werden, 
Und die Herrschaft der Frevler möge ein Ende nehmen; 
Setze ein Ziel all unserem Ungemach, 
Und mögen die Erlöser einziehen in Zion“. 
Man spürt hier bereits den Geist jener franko-germanischen elegi 
schen Dichtkunst, die, aus Italien verpflanzt, im X. Jahrhundert an 
den Ufern des Rheins erblühte. In dem gleichen Geiste waren die „Se- 
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