Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Karolinger zeit in Mitteleuropa 
Steinblock von der Stadtmauer und erdrückte einen Reiter mitsamt 
seinem Rosse. Die Ritter erblickten darin einen Fingerzeig von oben 
und wollten nunmehr Raschi eine Huldigung darbringen, erfuhren 
aber, daß der große Rabbi nicht mehr am Leben sei. Die Volks 
legende scheint in der Chronologie nicht genügend Bescheid ge 
wußt zu haben: Gottfried hat in der Tat in Jerusalem nur kurze Zeit 
geherrscht, doch ereilte ihn dort der Tod, noch ehe Raschi sein Le 
ben ausgehaucht hatte. Raschi starb in Troyes im Jahre no5. 
In der Literatur jener Zeit nahm neben der talmudischen Wis 
senschaft und der Exegetik auch noch ein dichterisches Schaffen 
ganz besonderer Art einen ansehnlichen Platz ein. Sehr früh ent 
wickelte sich nämlich hier die religiöse Dichtkunst, eine Nachzüg 
lerin der Psalmen, jener „Piut“, der aus Palästina und Babylonien, 
wie es scheint, zunächst den Weg nach Italien gefunden hatte (unten, 
§ 21), um von dort auch in die Literatur der französisch-deutschen 
Juden einzudringen. Die zwischen Schule und Synagoge bestehende 
enge Zusammengehörigkeit äußerte sich darin, daß dieselben Rab 
biner, die die Kultgesetze zur Formulierung brachten, zugleich auch 
liturgische Hymnen verfaßten. In diesen Hymnen, in den Bußgebeten 
und den Elegien (Piutim, Selichoth, Kinnoth) fand jenes national 
religiöse Gemütsleben seinen Ausdruck, das in den neuen jüdischen 
Zentren Europas dem religiösen Denken und der religiösen Praxis 
seine besondere Färbung verlieh. Schon der Vater des westlichen Rab- 
binismus, Rabbi Gerschom, war ein Verfasser von religiösen Hymnen. 
Manche davon hatten, wie bereits erwähnt, die Mainzer Verfolgungen 
vom Jahre 1012 zu ihrem unmittelbaren Anlaß. Der größte Teil die 
ser Hymnen bildet auch heute noch einen Bestandteil des Frühgottes 
dienstes an den zwischen den Vorabend des Rosch-ha’schana und 
den Jom Kippur fallenden „Bußtagen“. Jede Strophe dieser „Seli 
choth“ atmet tiefste nationale Trauer. In der Entstehung neuer, fern 
von der östlichen Heimstätte der Nation liegender Zentren der west 
lichen Diaspora erblickt Rabbi Gerschom nichts als eine Verschär 
fung des Ungemachs des „Galuth“. „Dem einen Galuth folgt das 
andere, ganz Judäa ist in der Verbannung, das sieche, entkräftete, von 
allen verlassene. 0 du mächtiger Erlöser, befreie uns doch um deinet 
willen! Siehe hin, unsere Kräfte sind erschöpft; schau hin, unsere 
Gerechten sind umgekommen, und niemand ist da, der für uns um 
Gnade flehen könnte. Gedenke, was du unseren Vorfahren gelobt hast, 
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