Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Karolinger zeit in Mitteleuropa 
läutert er mit aller Klarheit und Deutlichkeit den unmittelbaren Sinn 
des Textes, greift hin und wieder auf die Wortetymologie zurück und 
gibt bei vielen Ausdrücken in hebräischen Schriftzeichen die fran 
zösische Übersetzung an 1 ). Manchmal läßt sich jedoch Raschi, der 
die Bibel nur durch das Prisma des Talmud zu sehen vermochte, da 
zu verleiten, statt eine ungekünstelte Erklärung des Textes zu bieten, 
dessen Sinn auf Grund der Halacha umzudeuten oder in die Aus 
legung der Haggada und dem Midrasch entlehnte didaktische Er 
läuterungen und Legenden einzuflechten. Die leichte Zugänglichkeit 
und die anmutige Form dieses Kommentars machten ihn zu einem 
unzertrennlichen Gefährten des biblischen Textes. So lag denn dem 
Bibelstudium in den Schulen bis in die jüngste Zeit hinein der Raschi- 
Kommentar, den alle traditionstreuen Ausgaben des Bibeltextes auch 
heute noch durchweg enthalten, unverrückbar zugrunde. 
Auf die kommentatorischen Werke des Raschi ist somit die wei 
teste Verbreitung sowohl des biblischen wie des talmudischen Wis 
sens unter dem Volke zurückzuführen. Außerdem rührt von ihm aber 
auch eine Reihe von Fragen des Ritus und des Rechts behandelnden 
Entscheidungen („Teschuboth“) her, die in verschiedenen von seinen 
Schülern zusammengestellten Sammelwerken („Ha’pardes“, „Machsor 
Vitri“ u. a.) verstreut sind. Die religiöse und zivilrechtliche Fra 
gen betreffenden Entscheidungen des Raschi zeichnen sich durch 
hohe Menschenfreundlichkeit und durch ein ausgeprägtes Gefühl für 
die Volksbedürfnisse aus. Denjenigen, die aus Furcht vor der Ver 
1 ) Solche Erläuterungsglossen in französischer und mitunter in deutscher oder 
lateinischer Sprache sind auch in dem Talmudkommentar des Raschi anzutreffen, 
doch häufen sie sich ganz besonders in seinem Kommentar zur Bibel. Hier sind 
sogar ganze französische Sätze durchaus keine Seltenheit. Bei diesen Übersetzun 
gen in die Landessprache (Laas) beruft sich Raschi oft auf seine gelehrten Zeit 
genossen („we’jesch loasim“), woraus zu schließen ist, daß es um jene Zeit be 
sondere Vokabularien als Hilfsmittel für die Übersetzung hebräischer Wörter in 
die Landessprachen und auch umgekehrt gegeben haben dürfte und daß vielleicht 
auch einzelne biblische Bücher in später verschollenen Übersetzungen Vorgelegen 
haben. Die in hebräischer Transkription wiedergegebenen französischen Wörter 
sind der Mundart des damaligen Nordfrankreich (langue d’oil) entlehnt und für 
die Erforschung der Entwicklungsgeschichte der französischen Sprache von nicht 
• zu unterschätzender Bedeutung. Bei der Anführung der einen oder anderen fran 
zösischen Wendung erwähnt Raschi nicht selten auch die ihr zugrunde liegende 
reale Lebenserscheinung. Besonders zahlreich sind hierbei die auf den in der 
Champagne blühenden Weinbau sowie auf die Einzelheiten der Tracht und der 
Hauseinrichtung bezüglichen französischen Fachausdrücke vertreten. 
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