Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§17. Die Gelehrten von Lothringen und Raschi 
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teleuropa standen eben der nationalen Sprache in der Literatur keine 
Landessprachen als Rivalen gegenüber, wie es in Babylonien der Fall 
war, wo sogar so hervorragende Gaonen wie Saadia, Scherira und 
Hai ihre Bücher und Sendschreiben nicht selten arabisch oder aramä 
isch abfaßten. Sich im alltäglichen Leben des Französischen oder 
Deutschen bedienend, hielten jedoch die rheinländischen Juden diese 
Sprachen von ihrem Schrifttum in jeder Weise fern und gebrauch 
ten in diesem einzig und allein die nationale Sprache. 
Die jüdische Wissenschaft drang tief in das Innere Frankreichs 
ein, und wir begegnen hier in der Stadt Limoges einem hervorragen 
den Talmudgelehrten, Joseph Toh-Elem (der Beiname ist eine buch 
stäbliche Übersetzung des französischen )3 bon fils“), der mit dem 
größten Eifer die Werke der östlichen Gaonen sammelt und sichtet, 
um sich mit Hilfe dieser Lotsen einen Weg durch das uferlose „Meer 
des Talmud** zu bahnen. Diesem Zeitgenossen des R. Gerschom war 
es entgangen, daß in Lothringen sich bereits kühne Forscher sam 
melten, die gar bald ihre Unabhängigkeit von den babylonischen Gao 
nen proklamieren sollten; er ahnte nicht, daß gerade in Frankreich 
demnächst ein Mann erstehen sollte, der dazu berufen war, den Euro 
päern die Schätze des Talmud auf einem Wege zu erschließen, von 
dem man in der Heimat des Talmud selbst nie geträumt hatte. Es 
war dies Salomo ben Isaak, den jedes jüdische Schulkind unter dem 
abgekürzten Namen Raschi (RSI —die Anfangsbuchstaben der Worte: 
Rabbi Schelomo Izchaki) kennt. 
Raschi wurde in der Stadt Troyes, in der nordfranzösischen Pro 
vinz Champagne im Jahre io4o geboren. Troyes war damals das 
Hauptindustriezentrum der Champagne und eine bedeutende Messe 
stadt, doch war die dortige jüdische Gemeinde noch nicht so fest 
verwurzelt, um nach einer eigenen Talmudhochschule ein Bedürfnis 
zu verspüren. So mußte denn Raschi zur Erlangung der Hochschul 
bildung die Akademiestädte Worms und Mainz aufsuchen. Er be 
suchte hier die Schulen der berühmten lothringischen Gelehrten; seine 
Lehrer waren in Worms Jakob ben Jakar und Isaak ha’Levi und in 
Mainz Isaak ben Jehuda. Um das Jahr io65 kehrte er, mit großem 
Wissen ausgestattet, in seine Heimatstadt zurück, trat hier das Rab 
biner- und Richteramt an und begründete eine eigene Talmudschule, 
die erste in der Provinz Champagne. Seine Studien auf den verschie 
denen „Jeschiboth“, unter der Anleitung der hervorragendsten Ge-
	        
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