Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Die Karolinger zeit in Mitteleuropa 
gar Ammen zu halten; zugleich wurden dem jüdischen Rabbiner oder 
Gemeindeoberhaupt (archisynagogus) dieselben administrativen und 
gerichtlichen Vollmachten verliehen wie dem christlichen Bürgermei 
ster: es lag ihm ob, in Streitsachen zwischen jüdischen Bürgern zu 
Gericht zu sitzen, wobei diese allerdings an den Bischof oder an des 
sen Kämmerer als an die höhere Instanz appellieren konnten. Zum 
Schluß erklärt der Bischof, daß er bereit sei, dem jüdischen Volke 
(populus Judaeorum) weitergehende Freiheiten einzuräumen, als sie 
in irgendeiner anderen teutonischen Stadt den Juden je gewährt wor 
den seien. Das Bestreben, diese in seine Diözese zu locken, u,m mit 
ihrer Hilfe ein neues Industriezentrum am Rhein begründen zu kön 
nen, bewog eben den Kirchenfürsten, dem in der Entwicklung der 
städtischen Kultur eine so wichtige Rolle spielenden Volk das größt 
mögliche Entgegenkommen zu zeigen. Und in der Tat zogen bald viele 
Juden, besonders aus dem benachbarten Mainz, nach dem gastfreund 
lichen Speyer, so daß dieses zwölf Jahre später, zu Beginn der Kreuz 
züge, bereits eine bedeutende und wohlgeordnete jüdische Gemeinde 
aufwies. 
Im Jahre 1090 erklärte Kaiser Heinrich IV., einer von den Ver 
tretern der Speyerer und Wormser Juden vorgebrachten Bitte statt 
gebend, daß diese von nun ab unter seiner hohen Protektion ständen, 
und verbriefte ihnen zugleich ihre Rechte in besonderen Statuten, 
die anscheinend auch für die übrigen jüdischen Gemeinden Deutsch 
lands Geltung hatten. Diesen Satzungen zufolge sollte jeder, der sich 
eines Anschlags auf Leben oder Eigentum eines Juden schuldig 
machte, von dem kaiserlichen Gericht zur Verantwortung gezogen 
werden; niemandem stand das Recht zu, die Juden zur Taufe zu 
zwingen; sollte sich jemand freiwillig zur Taufe entschließen, so 
mußte ihm eine dreitägige Frist eingeräumt werden, damit es möglich 
werde, sich von der Freiheit und Aufrichtigkeit seines Entschlusses 
zu überzeugen; ein Täufling verlor jeden Anspruch auf die Beerbung 
seiner in ihrem alten Glauben verharrenden Verwandten; in Rechts 
streitigkeiten zwischen Juden und Christen konnte jede Partei „ihre 
besonderen Gesetze oder Bräuche“ in ihrem eigenen Interesse vor 
Gericht geltend machen (so konnten z. B. Juden zu den „Gottesurtei 
len“ oder Ordalien, die damals in der Rechtsprechung unter Christen 
üblich waren, nicht gezwungen werden), während Streitsachen unter 
Juden von dem Oberhaupt der jüdischen Gemeinde geschlichtet wer- 
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