Volltext: Die alte Geschichte des jüdischen Volkes (2, Orientalische Periode / 1925)

§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt 
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nung“ oder der Befestigung der nationalen Einheit und der daraus 
entspringende religiöse Formalismus — all dies mußte Menschen von 
der Art Jesu, Menschen des persönlichen Glaubens und der persön 
lichen Moral zutiefst empören. Empörung riefen die zahlreichen 
Speisegesetze, die Vorschriften über die rituelle Reinheit und die Sab 
batheiligung hervor, insofern sie nicht selten mit den moralischen 
Forderungen in Konflikt gerieten. Darf man wirklich am Sabbattage 
nicht Ähren pflücken, auch wenn es gilt, Hungernde zu speisen? Darf 
am Ruhetage auch zur Heilung der Kranken keine Arbeit verrichtet 
werden? Die Pharisäer ließen allerdings solche Abweichungen vom 
Gesetze gelten, jedoch nur in den alleräußersten Fällen, nämlich wenn 
es um die Lebensrettung (Pikuach nefesch) ging. Aber entbehrt denn 
dieser peinlichst eingehaltene Sabbatkultus nicht des Sinnes über 
haupt? Ist doch „der Sabbat um des Menschen willen gemacht, nicht 
aber der Mensch um des Sabbats willen“ (Mark. 2, 27). Freilich war 
ein gleicher Ausspruch auch bei den Pharisäern bekannt: „Der Sabbat 
ist euch (den Juden) gegeben, nicht aber ihr dem Sabbat“ (Talmud, 
Trakt. Joma, 85); und doch wurde die Peinlichkeit in der Sabbat 
heiligung immer mehr verschärft, weil der Sabbat eben weniger eine 
religiöse als eine nationale Institution war, ein Werkzeug der natio 
nalen Zucht. Vom moralischen Standpunkte aus konnten die Phari^ 
säer gegen den Aphorismus Jesu: „Nicht was zum Munde eingeht, 
verunreinigt den Menschen, sondern was zum Munde ausgeht — arge 
Gedanken, falsch Zeugnis, Lästerung“ (Matth. i5, nf.) nichts ein 
wenden; das ganze Netz der Speisegesetze und der Vorschriften 
über die rituelle Reinheit war indessen um der nationalen Absonde 
rung willen geknüpft worden, und dieses Ziel konnten die Pharisäer 
unmöglich preisgeben. Das Christentum Jesu verwarf somit in seiner 
Grundauffassung, wenn vorerst auch noch nicht in der Praxis, den 
ganzen Entwicklungsprozeß des Pharisäismus, der im Verfolg der na 
tionalen Ziele das persönliche Glaubensgefühl vor dem religiösen Ri 
tus zurücktreten ließ. Doch mußte die neue Lehre zwangsläufig von 
der theoretischen Verwerfung zur praktischen fortschreiten und so 
dem kommenden Abfall ihrer Bekenner vom Kerne der Nation den 
Boden bereiten. 
In der dem Pharisäismus gegenüber bekundeten Opposition war 
zweifellos auch ein gesundes Prinzip verborgen, insofern sich diese 
Opposition gegen die Auswüchse einer Partei wandte, die in allen
	        
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