§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt
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nung“ oder der Befestigung der nationalen Einheit und der daraus
entspringende religiöse Formalismus — all dies mußte Menschen von
der Art Jesu, Menschen des persönlichen Glaubens und der persön
lichen Moral zutiefst empören. Empörung riefen die zahlreichen
Speisegesetze, die Vorschriften über die rituelle Reinheit und die Sab
batheiligung hervor, insofern sie nicht selten mit den moralischen
Forderungen in Konflikt gerieten. Darf man wirklich am Sabbattage
nicht Ähren pflücken, auch wenn es gilt, Hungernde zu speisen? Darf
am Ruhetage auch zur Heilung der Kranken keine Arbeit verrichtet
werden? Die Pharisäer ließen allerdings solche Abweichungen vom
Gesetze gelten, jedoch nur in den alleräußersten Fällen, nämlich wenn
es um die Lebensrettung (Pikuach nefesch) ging. Aber entbehrt denn
dieser peinlichst eingehaltene Sabbatkultus nicht des Sinnes über
haupt? Ist doch „der Sabbat um des Menschen willen gemacht, nicht
aber der Mensch um des Sabbats willen“ (Mark. 2, 27). Freilich war
ein gleicher Ausspruch auch bei den Pharisäern bekannt: „Der Sabbat
ist euch (den Juden) gegeben, nicht aber ihr dem Sabbat“ (Talmud,
Trakt. Joma, 85); und doch wurde die Peinlichkeit in der Sabbat
heiligung immer mehr verschärft, weil der Sabbat eben weniger eine
religiöse als eine nationale Institution war, ein Werkzeug der natio
nalen Zucht. Vom moralischen Standpunkte aus konnten die Phari^
säer gegen den Aphorismus Jesu: „Nicht was zum Munde eingeht,
verunreinigt den Menschen, sondern was zum Munde ausgeht — arge
Gedanken, falsch Zeugnis, Lästerung“ (Matth. i5, nf.) nichts ein
wenden; das ganze Netz der Speisegesetze und der Vorschriften
über die rituelle Reinheit war indessen um der nationalen Absonde
rung willen geknüpft worden, und dieses Ziel konnten die Pharisäer
unmöglich preisgeben. Das Christentum Jesu verwarf somit in seiner
Grundauffassung, wenn vorerst auch noch nicht in der Praxis, den
ganzen Entwicklungsprozeß des Pharisäismus, der im Verfolg der na
tionalen Ziele das persönliche Glaubensgefühl vor dem religiösen Ri
tus zurücktreten ließ. Doch mußte die neue Lehre zwangsläufig von
der theoretischen Verwerfung zur praktischen fortschreiten und so
dem kommenden Abfall ihrer Bekenner vom Kerne der Nation den
Boden bereiten.
In der dem Pharisäismus gegenüber bekundeten Opposition war
zweifellos auch ein gesundes Prinzip verborgen, insofern sich diese
Opposition gegen die Auswüchse einer Partei wandte, die in allen