Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

Ueber tanä uncl Meer. 
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Als Frau Josefine Cordula nach fünf Uhr 
durch die Ratingerstraße wieder zurückkam, war 
sie ganz außer Atem; sie hatte sich sehr geeilt und 
war doch fast an zwei Stunden fortgeblieben. 
Und der Peter war ganz allein zu Haus! Die 
Kochfrau hatte ihre Vorbereitungen unterbrochen 
und war mit ihr zugleich gegangen; der Wilhelm 
war schon am Vormittag fortgelaufen. No, sie 
gönnte es dem Jungen ja! Der hatte jetzt so 
viele Freunde; und waren auch mal ein paar 
Rauhbeine darunter, zu streng durfte mau 
nicht urteilen, Jugend ist noch kein Alter, und 
jung Bier muß ausgären. Bei ein paar Rem 
peleien war der Wilhelm dabei gewesen, aber er 
hatte sich nicht selber bei der Hauerei beteiligt 
— bewahre! — nur zugeguckt; die Polizei hatte 
denn auch ein Einsehen gehabt und ihn nicht mit 
ins Speckkämmerchen gesperrt, als er sagte, er 
wäre der Enkel vom Bürger Zillges in der 
Ratingerstraße. 
Ja, ihr Peter, der war wohl angesehen! 
Noch so ein echter Düsseldorfer Bürger aus der 
alten guten Zeit! Ob er schon ungeduldig auf 
sie wartete? Ach, der schlief ja —hoffentlich! 
Verlohnt hatte sich's nicht einmal, daß sie gucken 
gelaufen war — so sah ein König aus?! No 
ja, die Preußen — kein bißchen vergnügt! 
Je näher sie ihrem Hause kam, desto eiliger 
trippelte sie; nun hörte sie einen Salutschuß, der 
galt dem Preußenkönig. Ob der Zillges den 
auch hörte? Dann würde er sich ärgern. Da 
saß er noch im Lehnstuhl hinterm Spiönchen! 
Sie winkte und nickte. Er sah sie nicht. 
„Zillges," rief sie, als sie in den Flur trat, 
und „Peter, Peterken, ich bin als wieder hie," 
als sie in die große Wirtsstube kam. 
„Zillges!" 
Keine Antwort. 
War jemand hier gewesen, ein Gast? Plötz 
lich von einem beklemmenden Gefühl befallen, 
sah sich die alte Frau um — nein, kein Mensch! 
Die Eichenblätter und Dahlien, die sie in einem 
Korb in die Ecke gestellt, um nachher eine Guir 
lande für das morgende Fest zu winden, dufteten 
stark und herb, wie fallendes Laub im Herbst. 
Es war sehr still. Ein Frösteln lief ihr über 
den Rücken in der Kühle des leeren Zimmers. 
Schlief er so fest?! Den Atem anhaltend, 
drückte sie leise auf die Thürklinke zum kleinen 
Comptörchen, die Thür knarrte und sang in den 
Angeln. 
Er hörte nichts. „Zillges! Peter —!" 
Da saß der alte Mann in seinem Lehnstuhl 
am Fenster, der Kopf auf die Brust gesenkt, die 
Hände gefaltet. 
-fl 
Ein Gast war in den „Bunten Vogel" ge 
treten, während alle den königlichen Gast gucken 
gelaufen waren, auch ein König — der Tod. 
Peter Zillges war sanft entschlafen. Der eilig 
herbeigerufene Arzt konnte nur nach dem Priester- 
schicken. 
Es gab kein lautes Wehklagen. Als Josefine 
atemlos, als erste, in den „Bunten Vogel" ge 
rannt kam — Wilhelm hatte weinend die Trauer 
kunde in die Kaserne getragen —, fand sie die 
Großmutter oben in der Schlafkammer neben dem 
Ehebett sitzen, darauf der tote Großvater lag. 
Ganz friedlich ruhte dessen Gesicht im Flacker 
schein geweihter Kerzen, die sauberen weißen Haare 
umgaben in einem noch vollen Kranz die Stirn, 
die ganz glatt war; alle Falten und Schrumpeln 
wie weggewischt. Seine Frau hatte ihm ein 
Kruzifix auf die Brust gelegt und um die gefalteten 
starren Hände den Rosenkranz geschlungen. Wie 
eine Wolke schwebte Weihrauchduft im engen 
Stübchen. 
Die Großmutter wand aus den Eichenblättern 
und Dahlien eine Guirlande, ihre Lippen murmelten 
Gebete. Als die Enkelin eintrat, sah sie auf und 
nickte wehmütig: „Die sollt' für dich sein, Finchen! 
Nu muß Zillges die kriejen!" Und sie flocht 
emsig weiter. 
Josefine kauerte sich ihr zu Füßen nieder, ein 
Schauer nach dem andern überlief sie, sie hatte 
noch nie einen Toten gesehen. Eine Scheu hielt 
sie gepackt vor dem stillen, kalten Großvater. Ihr 
Herz klopfte heftig, sie begriff die Großmutter 
nicht, daß die so gelassen war. 
„Nu kann er nit meh bei deine Hochzeit sein," 
flüsterte Frau Josefine Cordula, „och, und er 
hält' sich doch jefreut! Jelt, Zillges?!" Sie 
wandte sich ganz ihrem Toten zu, sanft faßte sie 
seine Hand. „Weißte noch, wie mir Hochzeit 
machten? Da flocht ich der Abend vorher auch 
en Jirland, aber nur eine aus Palm, die Blumen 
un de Myrtestock hatt' die fremde Einquartierung 
all ausjeruppt. Un de Hochzeitsabend fingen de 
Franzosen an, auf de Stadt zu schießen, von de 
Kirchen würd' Sturm jeläut', dat Kloster that 
brennen un de Türm' vom Schloß auch; mit 
Kanonen schossen se von der anner Seit', aber 
wir krochen im Keller, un du hielt'st mer de Ohren 
zu. Un wir sind doch e so jlücklich jeworden, 
jelt, Peter? Peterken!" 
Josefinens Herz krampfte sich zusammen — 
ach, die Großmutter, die Großmutter, die hatte 
ihren Hochzeiter geliebt! Brennende, unendliche 
Thränen stürzten ihr aus den Augen; so hatte sie 
noch nie geweint, beide Hände vors Gesicht 
schlagend, schluchzte sie krampfhaft. 
„Wein nit so, Kind," flüsterte die Groß 
mutter. „Finchen, mußt nit e so weinen — er 
schläft ja nur!" Und sich über den Gatten 
beugend, strich sie ihm zärtlich links über die 
Wange und rechts über die Wange; dann machte 
sie das Zeichen des Kreuzes über ihn und sich: 
„Jesus! Maria! Joses! Euch schenk' ich seine 
Seele! — Bis wir uns wiedersehn in der ewigen 
Jlorie, Peterken, schlaf jut!" 
Josefinens Hochzeit fand trotz des Großvaters 
Tod am festgesetzten Termin statt. „Es ist jetzt 
ohnehin nicht an der Zeit, Freudenfeste zu feiern,"
	        
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