Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

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Ueber Land unä Meer. 
europäischen Mächte zur Türkei und über den 
Bahnbau. Der Alte gab mir zu, daß Rußland, 
England und Frankreich heute so gut wie seit alters 
in der Türkei in der Hauptsache nur eigensüchtige 
Interessen verfolgten, und daß wir sozusagen die 
ungefährlichsten Freunde seien; „wenn ihr aber 
die Bahn durch das Land gebaut habt," fuhr er 
fort, „so wird sie doch der Strick sein, mit dem ihr 
es an euch zieht." So dachten und denken nicht 
wenige im osmanischen Reich, und der Sultan, 
dessen ureigenstem Wunsche das Bahnprojekt ent 
sprungen ist, hat mit diesen Elementen, die aus 
ihrem beschränkt patriotischen Gesichtskreise heraus 
von Mißtrauen erfüllt sind, einen ebenso schweren 
Stand gehabt wie gegenüber den religiösen Fanatikern 
des orthodox-konservativen Islam. 
Ich war damals in Aleppo, Mossul und Bagdad 
der Meinung (und bin es auch heute noch), daß 
sehr energische Machenschaften in Konstantinopel im 
Werk gewesen sind, um die Erteilung der Bau 
konzession an uns zu verhindern. Indes ist 
diese Zeit der Ungewißheit und Sorgen nun vor 
über; vor kurzem hat es der Telegraph aller 
Welt verkündet, daß die Bagdadbahn wesentlich 
unter deutschem Einfluß gebaut werden wird, und 
daß die Konzession sogar der bereits bestehenden 
und von Deutschland aus geleiteten Gesellschaft der 
anatolischen Bahnen übertragen worden ist. Nament 
lich dieser letztere Umstand muß mit besonderer 
Befriedigung begrüßt werden, denn die Neubildung 
einer besonderen Baugesellschaft für die Bagdad 
bahn, die ja nichts andres ist als die Fortsetzung 
des bereits bestehenden anatolischen Netzes, hätte 
leicht zu neuen Schwierigkeiten und Intriguen den 
berechtigten Interessen Deutschlands zuwider Anlaß 
und Gelegenheit geben können. 
Vergegenwärtigen wir uns nun die Bedingungen, 
unter denen der Bau zu stände kommen soll, den 
Verlauf der Traee durch die von ihr in Zukunft 
erschlossenen Länder Vorderasiens und die Folgen, 
welche das große Unternehmen nach seiner Vollendung 
voraussichtlich für das osmanische Staatswesen, für 
Deutschland und für die gesamte kulturelle Welt 
entwickeln wird. 
Man spricht in der Regel von der deutschen 
Bagdadbahn. Dieser Ausdruck ist insofern un 
genau, als das offizielle Deutschland mit dem Bau 
als solchem natürlich gar nichts zu thun hat und 
auch dem deutschen Kapital, der deutschen privaten 
Initiative nicht eine Monopolstellung, sondern nur 
die Führung des Unternehmens eingeräumt ist. 
Eher kann man den Bahnbau als ein deutsch 
französisches Werk bezeichnen, denn das deutsche 
und das französische Kapital, welch letzterem sich auch 
belgisches Geld angegliedert hat, sind von vorn 
herein übereingekommen, die Bausumme nach dem 
Verhältnis von 60 für Deutschland und 40 o/o für 
Frankreich untereinander zu teilen. Ein solches Ver 
fahren ist aus dem doppelten Grunde ratsam und 
notwendig gewesen, weil erstens das auf 600000000 
Franken veranschlagte Baukapital in Deutschland 
allein schwer aufzubringen wäre, und weil zweitens 
ohne eine gewisse internationale Verständigung, d. h. 
ohne eine indirekte Beteiligung der auswärtigen Groß 
mächte, unsrerseits überhaupt schwer an die Arbeit 
herangetreten werden kann. Sollte es sich nun in 
der Folge noch ergeben, daß weitere Nationen zur 
finanziellen Beteiligung zuzulassen sind, so würde 
der etwa auf sie 
entfallende Anteil 
von der deutschen 
und französischen 
Grundrate nach 
Maßgabe ihres 
arithmetischen 
Verhältnisses zu 
einander ab 
gezogen werden, 
d. h. also, wenn 
z. B. England eine 
Beteiligung von 
10o/o zugestanden 
erhält, so würden 
vomdeutschenAn- 
teil 6 und vom 
französischen 40/0 
der Gesamtsumme 
zu Gunsten der 
Engländer abgezogen werden. Die Bagdadbahn kann 
nicht gebaut werden ohne eine Zinsgarantie von seiten 
der türkischen Regierung, und zwar beläuft sich die 
von der Pforte zugestandene Summe nach dem 
Wortlaut der Konzession auf insgesamt 16500 
Franken jährlich für den laufenden Betriebskilo 
meter. Da nun die Linie mit ihren Abzweigungen 
die Länge von 2500 Kilometern erreichen wird, so 
bedeutet das Versprechen der Pforte eine Garantie 
verpflichtung von rund 40 000 000 Franken jährlich. 
Notorisch wird diese Verpflichtung nie in voller 
Höhe wirksam werden, weil auch im ungünstigsten 
Falle die eignen Einkünfte der Bahn einen erheb 
lichen Teil der für das finanzielle Bestreben des 
Unternehmens erforderlichen Kilometereinnahmen 
decken werden. Auf 5—6000 Franken pro Jahr 
und Kilometer kann man selbst im minder günstigen 
Falle für das erste Jahrzehnt des Bestehens 
hoffen. Immerhin muß die türkische Regierung mit 
einer jährlichen Zahlungsverpflichtung von 20 bis 
25 000000 Franken rechnen. Diese können von 
jener Seite nur aufgebracht werden, wenn die 
Staatseinnahmen um einen entsprechenden Betrag 
über ihre jetzige Höhe hinaus, die jährlich 500000000 
Franken beträgt, gesteigert werden. Auf welchem 
Wege dies am besten zu erreichen ist, darüber 
kann kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen: 
man braucht nur den niedrigen Zollsatz, mit dem 
die Türkei die Einfuhr aus fremden Ländern be 
lastet, von den heutigen 80/0 auf 14—15 0/0 vom
	        
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