Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

Ueber Lanä unä Meer. 
187 
Ich nannte meinen Namen. Die Dame ent 
gegnen nicht mit einem Worte, aber sie lächelte 
höchst sonderbar, und ich muß bekennen, daß ich 
für diese Art ihres Lächelns keine annehmbare Er 
klärung finden konnte. Aber sehr sympathisch be 
rührte mich das Lächeln nicht, das kann ich sagen. 
„Also, mein gnädiges Fräulein," fuhr ich fort, 
„ich sehe, daß Sie Ibsens Nora lesen. Das Ur 
teil einer Dame über Damen ist immer interessant, 
es würde mich ganz außerordentlich interessieren, 
Ihr Urteil über Ibsens Nora zu hören." 
„Haben Sie Ibsen mal gesehen?" mit dieser 
Frage mischte sich jetzt der kleine dicke Herr, der 
neben mir saß, ins. Gespräch. „Haben Sie Ibsen 
mal gesehen? Ich hab' ihn drei- oder viermal irr 
Christiania gesehen. Famoser Kerl, ganz fanroser 
Kerl!" 
Das Fräulein warf dem kleinen dicken Herrn 
einen recht verächtlichen Blick zu, der für mich zu 
gleich ein Blick in ihren Charakter war. Gewiß, 
der Mann hatte eine Zurechtweisung verdient. 
Aber wäre es nicht vornehmer gewesen, wenn man 
seine unwillkommene Einmischung gänzlich ignoriert 
hätte? Dieser verächtliche Blick der jungen Dame 
zeugte von hochmütiger Selbstschätzung. Ich nahm 
mir vor, mich doch etwas mehr in acht zu nehmen. 
„Mein Herr," antwortete jetzt das Fräulein 
auf meine Frage, „das Thema, das Sie da vor 
schlagen, scheint mir doch etwas zu schwerfällig zu 
sein für eine kurze Reisebekanntschaft. Wollen wir 
nicht lieber, wie üblich, beim Wetter anfangen?" 
„Wir haben mindestens noch zwei Stunden zu 
sammen zu reisen," entgegnete ich, „und das ist 
doch wirklich keine kurze Zeit für ein Menschenleben, 
das doch nur einen kaum auszusprechenden Bruch 
teil einer Sekunde unsers Planetenalters dauert." 
Sie lächelte wieder, aber mit einem besseren 
Lächeln, und sagte: „Ihre Beweisführung ist zwar 
etwas sonderbar, aber gerade deshalb will ich Ihre 
Frage, wenigstens kurz, beantworten. Also was 
ich von Ibsens Nora denke? Nun, ich finde es 
begreiflich, daß sie ihren Mann verläßt, aber ich 
finde es nicht begreiflich, daß sie ihre Kinder 
verläßt." 
Ich war peinlich berührt. Dieser Gedanken 
gang bei einem jungen Mädchen! Nein, das war 
keine Frau für mich. 
„Und noch eins," fuhr die junge Dame fort, 
„ich habe mich oft gewundert, daß deutsche Männer, 
die skandinavische und französische Bücher lesen und 
skandinavische und französische Dramen sehen, noch 
immer den Mut haben, sich eine Frau zu nehmen." 
„Waren Sie mal in Paris?" rief wieder der 
kleine dicke Herr dazwischen. „Waren Sie mal in 
Paris? Wunderbare Weiber — Pardon, wunder 
bare Damen!" verbesserte er sich infolge des er 
neuten verächtlichen Blickes meiner Freundin. 
Ich war verwirrt. Also diese junge Dame 
kannte all die Bücher und Dramen, — empörend! 
Aber wie entzückend stand ihr die energische Ironie, 
mit der sie jene Bücher und Dramen verdammte! 
Ich fühlte, wie meine Stimme ein wenig zitterte, 
als ich sagte, nein, flüsterte, indem ich mich unwill 
kürlich zu ihr herüberbeugte: „O mein Fräulein, Sie 
haben recht, jene Bücher und Dramen lehren uns 
auch, die Frauen zu fürchten und zu verachten, — 
bis wir eine einzige treffen, von der wir glauben, 
daß sie anders ist. Bis wir die eine finden, die 
unser Herz rührt, die —" 
„Mein Herr," unterbrach sie mich schnell, „wir 
wollen uns doch lieber vom Wetter unterhalten." 
Ich fuhr erschrocken zurück. Ich hatte freilich 
diese Zurechtweisung verdient, die gar nicht einmal 
streng gegeben wurde. In einem solchen Tone 
spricht man nicht, wenn man jemand gänzlich ab 
weisen will. 
Das Fräulein hatte sich inzwischen ein wenig 
aus dem halb offenen Fenster gelehnt. „Es regnet 
ein wenig," sagte sie. 
Als sie sich mir wieder zuwandte, sah ich, daß 
ihr ein großes Stück Kohlenruß ins Gesicht geflogen 
war. Ich machte sie aufmerksam darauf. Sie zog 
ihr Taschentuch und warf einen Blick nach dem 
Spiegel an der Seitenwand des Coupes. Der 
kleine dicke Herr saß gerade davor. Er machte 
Miene, ihr Platz zu machen. Da erfaßte mich so 
eine Art von Eifersucht. 
„Ich habe einen Spiegel bei mir!" rief ich 
schnell und griff nach meinem Handkoffer, der auf 
dem Gepäckbehälter über meinem Sitze lag. In 
der Hast aber, mit der ich den Koffer herunter 
nehmen wollte, hakte einer der Riemen fest. Mit 
einigen kräftigen Rucken indessen riß ich den Koffer- 
los und hatte in der nächsten Minute das Ver 
gnügen, meinem interessanten Gegenüber einen an 
ständigen Handspiegel präsentieren zu können. 
Plötzlich gab es einen ziemlich heftigen Stoß, 
und der Zug hielt. Ich riß das Fenster herunter. 
Wir hielten auf freiem Felde. Wir sahen den Zug 
führer und die Schaffner die Wagen entlang eilen 
und alle Thüren aufreißen. 
„Da ist ein Unglück geschehen!" rief ängstlich 
die andre Dame, die mit in unserm Coupo war. 
„Sehen Sie Rauch?" fragte der dicke kleiue 
Herr. „Ich bin mal von Genua nach Rom ge 
fahren, da kamen drei Wagen in Brand. Sehen 
Sie Rauch?" 
In diesem Augenblick ward die Thür unsers 
Wagens aufgerissen, ein Schaffner warf einen Blick 
an die Decke, sprang in den Wagen und rief: 
„Hier ist es!" 
Im nächsten Moment war auch der Zugführer 
in unserm Coupe. 
„Wer hat hier die Notbremse angezogen?" 
fragte er erregt und streng. 
Niemand antwortete. 
„Hier ist die Notbremse angezogen. Die Plombe 
ist abgerissen. Sehen Sie doch!" 
Da fiel mir mein festgehakter Koffer ein. Ich 
meldete mich. 
„Bis zu hundert Mark Strafe!" ries der kleine 
dicke Herr. 
„Jawohl, ganz recht," sagte der Zugführer. 
„Aber wenn es doch unverschuldet und nur aus 
Versehen geschehen ist," warf ich ein. 
„Das kann ich jetzt nicht untersuchen, mein 
Herr. Wohin reisen Sie?" 
„Nach Heidelberg." 
„Dann mache ich Ihnen den Vorschlag, daß 
Sie jetzt bei mir hundert Mark deponieren und die 
Sache dann in Heidelberg beim Stationsvorstand 
verhandeln." 
Ich erklärte mich einverstanden und zog mein 
Portemonnaie, um das Geld zu zahlen. 
Da kam ich auf einen vortrefflichen Gedanken. 
Ich hatte zwar viel mehr als hundert Mark bei 
mir, nachdem ich aber bis neunzig gezählt hatte, 
that ich, als ob ich vergeblich nach mehr suche.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.