Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

psyekologiscke Sluclien. 
Humoreske 
Ulbert jkoäerick. 
ein Freund Dr. plül. Grandauer hat so seine 
besonderen Eigenheiten. So z. B. meint er 
— aber ich werde ihn seine kleine Geschichte selber 
erzählen lassen, dann wird man ihn schon kennen 
lernen. Also er erzählt: 
Vor einigen Tagen empfing ich von meinem 
Vater aus Wiesbaden, wo er zur Kur ist, ein 
Telegramm folgenden Inhalts: 
„Ich habe hier ein entzückendes Mädchen kennen 
gelernt. Das ist eine Frau für dich. Komme so 
fort hierher." 
Am nächsten Tage war ich in Wiesbaden. 
Mein Vater erwartete mich mit Ungeduld in seinem 
Hotel. 
„Das Mädchen ist soeben plötzlich nach Heidel 
berg abgereist," sagte mein Vater, „warum, weiß 
ich nicht. In einer Viertelstunde geht der Zug. 
Komm schnell mit nach dem Bahnhof, vielleicht 
kannst du sie noch sehen." 
Wir fuhren eiligst nach dem Bahnhof. Unter 
wegs erzählte mir mein Vater von dem Mädchen. 
Er hatte sie im Hotel kennen gelernt. Sie hieß 
Mathilde Köster, war hübsch, reich, liebenswürdig 
und geistreich. Eine liebere Frau gäbe es auf der 
ganzen Erde für mich nicht; wenn ich sie nicht zu 
gewinnen versuchte, wäre ich ein fluchwürdiger 
Idiot. 
Drei Minuten vor Abgang des Zuges erreichten 
wir den Bahnhof. Meines Vaters Blicke spähten 
die Wagenreihe entlang. 
„Da, da!" rief er laut und erregt. „Da steigt 
sie ein! Siehst du nicht? Zweite Klasse. Der Herr 
reicht ihr das große Bouquet in den Wagen. 
Siehst du nicht?" 
Ich sah, stürzte an den Schalter, löste ein 
Billet nach Heidelberg, stürmte an den Zug zurück, 
riß die vom Schaffner bereits geschlossene Coupe 
thür wieder aus und schwang mich in den Wagen. 
Im nächsten Momente setzte sich der Zug in Be 
wegung. 
Der Platz meiner Dame gegenüber war noch 
frei. Ich nahm ihn ein. Außer uns beiden waren 
noch zwei Herren und eine andre Dame im Wagen. 
Ich faßte meinen Plan. 
Nach meiner festen Ueberzeugung kann man die 
Charaktereigenschaften eines Menschen am sichersten 
nach kleinen, unscheinbaren Handlungen beurteilen, 
die er gewissermaßen unwillkürlich begeht. Um das 
zu verstehen und zu können, muß man freilich ein 
gewiegter Psychologe sein. Ich aber glaube mich 
rühmen zu dürfen, daß ich ein gewiegter Psychologe 
bin. Ich habe mein System schon bei vielen meiner 
Bekannten in Anwendung gebracht und mich noch 
nie im Charakter eines Menschen getäuscht. Also 
ich faßte den Plan, die mir vom Vater zugedachte 
Frau erst einmal nach meiner Psychologie genau 
zu studieren. Ich hatte ja Zeit genug dazu wäh 
rend der mehrstündigen Eisenbahnfahrt. 
Also hübsch ist sie, das ist gewiß. Ein regel 
mäßiges, sympathisches Angesicht und prachtvolles 
dunkelblondes Haar. 
Sie hält das große Bouquet noch in der Hand. 
Es besteht aus lauter Veilchen. Veilchen sind also 
ohne Zweifel ihre Lieblingsblume, und das hat 
der Herr gewußt, der ihr das Bouquet überreicht 
hat. Veilchen bedeuten Bescheidenheit. Das ist 
nett. Aber wenn man zu wissen giebt, daß man 
bescheiden ist, so ist man unbescheiden. Das ist 
nicht nett. Jetzt legt sie das Bouquet neben sich 
auf den Sitz. Aber sie legt es zu weit nach vorne. 
Es wird bald durch die Bewegungen des Wagens 
zu Boden,fallen. Also, das Fräulein ist unvorsichtig. 
Nun zieht sie die Handschuhe ab. Zuerst den linken mit 
der rechten Hand. Gut, sie ist praktisch. Aber, was 
ist das? Sie hört auf, bevor noch der eine Hand 
schuh herunter ist. O, sie ist wenig standhaft. 
Jetzt sieht sie starr aus dem Fenster. Ich 
glaube, sie thut das, damit ihre Blicke den meinigen, 
die sie so scharf fixieren, nicht begegnen. Sie will 
mich in keiner Weise zu irgend einer Annäherung 
ermutigen. Das ist brav. Vielleicht fürchtet sie 
aber auch, sich mit mir unterhalten zu müssen. 
Diese Furcht könnte aus geistigem Unvermögen 
oder auch aus geistiger Trägheit entspringen. Das 
werde ich schon ermitteln. 
Endlich ist der Handschuh ganz abgestreift. Sie 
legt ihn in den Schoß. Ich sehe eine recht hübsche 
Hand, die niemals grobe Arbeit verrichtet hat, die 
aber doch sorgsamer gepflegt sein könnte. Die Dame 
ist ohne Zweifel von etwas gleichgültiger Natur. 
Jetzt nimmt sie den Hut ab. Ach, sie ist doch 
reizend, entzückend! Sie preßt die Hand gegen das 
wohl etwas gelockerte Haar. Das ist Eitelkeit, 
aber entschuldbare Eitelkeit. Nein, jetzt sehe ich, 
es ist Koketterie. Diese Fingersprache sagt ganz 
deutlich: seht, wie prächtig mein Haar ist! Frei 
lich, das ist es auch. 
Ah, sie nimmt ein Buch aus ihrer kleinen Reise 
tasche. Vortrefflich! Wenn ich deine Bücher kenne, 
kenne ich dich. Wenn ich nur den Titel sehen 
könnte, — ah, wahrhaftig: Nora. Sie liest Ibsen. 
Ei, ei! Es scheint mir an der Zeit zu sein, zur 
mündlichen Prüfung überzugehen. 
Eine Minute später fiel der Handschuh meines 
reizenden Gegenüber zu Boden. Ich hob ihn sehr 
schnell auf und gab ihn zurück. 
„Danke," sagte kaum hörbar die junge Dame. 
„Ich bedaure sehr," sagte ich. 
„Wie?!" fragte sie und sah mich verwundert an. 
„Ja, meine Gnädige," fuhr ich fort, „ich be 
daure sehr. Ihnen diesen Dienst habe leisten zu 
müssen. Ich hätte für mein Leben gern eine Unter 
haltung mit Ihnen begonnen. Das kann ich doch 
jetzt nicht. Es wäre doch, als beanspruchte ich 
Ihre Unterhaltung als Lohn für meinen Dienst." 
Sie lächelte. „Sie unterhalten sich ja aber 
schon mit mir," sagte sie. 
Diese Antwort war nicht geistreich, aber doch 
wenigstens logisch. 
„Ach ja, wahrhaftig," erwiderte ich. „Gestatten 
Sie mir zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle, 
gnädiges Fräulein."
	        
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