Volltext: Braunauer Kalender 1910 (1910)

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dem Auftritt die Zeit nur zu schnell verstrichen war. Schon riefen die Kirchenglocken 
zum Gottesdienst, es war also bereits 9 Uhr. Da eilte der Geselle, was er nur konnte. 
Die Hofrätin empfing ihn mit empörter Miene, schalt ihn einen Lüderjau und 
gab ihm die heilige Versicherung, bei seinem Meister nicht mehr arbeiten zu lassen. 
Am nächsten Morgen empfing Bräuning Karl sehr ungnädig uud herrschte ihn 
an: „Wenn sie nicht nur meine Familie beleidigen wollen, sondern mir auch noch 
die Kundschaft verderben, dann habe ich -keine Beschäftigung länger für Sie. Aus 
Rücksicht auf Ihre kranken Eltern mögen Sie bis zum ersten Oktober noch bleiben. 
Dann sind wir fertig miteinander. Schämen sollten Sie sich, mit halbwüchsigen 
Burschen am Kirchhof Schlägerei anzufangen." 
Entrüstet schilderte Karl seinem Meister den Hergang, aber der zuckte nur mit 
den Achseln und redete von faulen Ausreden. 
Bon diesem Tage an hatte der arme Geselle keinen leichten Stand in seinem 
Handwerk. In der Werkstatt Aerger und Verdruß, daheim Kummer und Sorgen, 
das war sein erbärmliches Los. — 
Am Sonntag Nachmittag pflegte Karl immer auf ein paar Stunden in die 
freie, schöne Gottesnatur zu wandern, um auf andere Gedanken zu kommen. Da 
traf es sich dann regelmäßig, daß er dem alten Invaliden begegnete und ein 
Stündchen mit demselben verplauderte. Sie wurden mit der Zeit gute Freunde, trotz 
des großen Altersunterschiedes. Ein paar Mal war Karl sogar in Begleitung seiner 
Braut zum Hirtenhaus gewandert, weil der Alte sie beide dringend eingeladen. Da 
sah es kahl und öde aus in dem armseligen Kämmerlein mit den beklebten Fenster¬ 
scheiben. Ein Tisch und ein paar selbstgefertigte Stühle aus rohem Holz, zwei große 
Kisten und ein Strohlager, das war das ganze Mobilar. An der Wand hing ein 
vergilbtes Bild von Marschall Blücher. Aber trotz aller Dürftigkeit fanden die ja 
nicht gerade verwöhnten Brautleute es traulich und gemütlich bei dem gegen sie 
immer so freundlichem Greise. Der biedere Gemeindehirt aus der anderen Stube 
sorgte für eine Tasse Kaffee unb dann 'ließ mau „Vater Blücher" erzählen. 
„War auch mal glücklicher Bräutigam," begann er heute feine Geschichte. 
„Damals, anno 12, ehe wir nach Rußland mit mußten, lernte ich mein blondes 
Leuchen kennen. War ein schmuckes Dirndel, eines wohlhabenden Schultheißen ein¬ 
ziges Kind. Zwei Jahre blieb sie mir treu, trotzbem sich ber Freier genug fanben 
unb ber Vater von dem wilden Husaren nicht viel wissen mochte. Als mir dann 
aber vor Paris eine Bombe das rechte Bein fortriß und aus dem Husarenwacht¬ 
meister ein armseliger Stelzfuß wurde, bet sandte schön Seuchen mir ben Ring zurück. 
Ja, ja, nur einmal sah ich sie noch — ba war sie Waldhoferin, eines reichen'Bauern 
Weib unb trug ein bausbäckiges Büblein auf bem Arm. Mich kannte sie nicht mehr!" 
Eine Träne rann bei diesen letzten Worten über des alten Kriegers rauhe Wange. 
Der alte Kuhhirt Mielke, eine treue Seele, brachte ihn schnell aus anbere Ge¬ 
danken unb es währte bann auch gar nicht lange, ba sprach er wieder von Attaten 
und wilden Reitergefechten. 
Die letzten Sonntage sah Karl Steinberg seinen Freund mit betn Stelzfuß 
nicht mehr draußen, trotz ber schönen Spätsommertage. Des alten Solbaten Lebens¬ 
kraft war völlig gebrochen. Er vermochte sich kaum noch allein aufzurichten. Hätte 
ber treue Nachbar Mielke nicht brüberlich für ihn gesorgt, so würbe er schon ver¬ 
hungert sein. Jetzt wollte es auch mit dem Erzählen gar nicht mehr gehen. Seine 
Gedanken waren so verwirrt, daß er den alten Blücher unb Kaiser Napoleon 
verwechselte. 
Nun waren es nur noch 14 Tage hin bis zum ersten Oktober. Karl hatte sich 
vergeblich bemüht, in der Nähe, etwa auf einem der großen umliegenden Dörfer,
	        
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