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Das Volkslrecl.
Line kurze IDürdigung von Dr. Josef f)aimerl.
Wie wir an allen Menschen, welche neben- und hintereinander
denselben Fleck Erde bewohnen, gemeinsam äußere Merkmale und
'übereinstimmende Eigenschaften erkennen, wie man aus der Sprech¬
weise und dem mehr oder weniger melodlienhasteN 'Tonfall auf
die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volksstamm schließen kann,
so gibt das Volkslied über das Leben, die Sitten, Gebräuche, und
obendrein über die Herzensbildung derer Ausschluß, die es singen:
„Es ist in der Tat die mündliche UebeEeferuug des Volkslebens/
(Stibler.)
Wer sich etwas eingehender mit den alten Liedern beschäftigt,
wer diese einfachen Weisen genauer kennen lernt, der muß seine
Freude dran haben. — Eine mit Bildern und Zier gegen bänden
überladene Wohnung sagt uns 'weniger zu als das schön einge¬
richtete, sauber gehaltene deutsche Heim. Ebenso erwärmt uns eine
ganz moderne, mit allerlei Kunstkniffen geführte Weise nicht so
wie ein altes deutsches Volkslied. So schön auch und verdienstvoll
die Pflege des Kunstliedes ist, die Volksweisen sollen darüber nicht
vergessen werden, weil sie Gemeingut und jedem leicht zugänglich
sind. Es ist beispielsweise nicht jedermanns Sache, Hugo Wolf zu
verstehen. In, dessen „Karwoche" schwebt die Singstimme plastisch
über der Begleitung uni) geht ihren eigenen Weg voll von Klage
und tiefem Schmerz, während ans dem Klaviere Glockenklang, das
Jubel» der Vögel und frommer Choralgesang tönen. Nur der Ge¬
schulte kann bei solchen Liedern währen Kunstgenuß empfinden. Im
Volksliede hingegen finden alle das, was sie anheimelt und an¬
zieht: das Ungekünstelte. Eine Welt des Gefühles tult) sich darin
auf. „Wie ein Frühlingsmorgen unsere ganze Freude aufjauchzen
läßt, wie ein blätterjagender Herbststurm unser ganzes Weh auf¬
peitschen kann, so bringt ein Volkslied unser Fühlen zu heftigem
Stürmen oder sonnigem Selbstbesinnen."
Beim tieseren Eindringen in die Volksweisen und heim Stu¬
dium des Volksliedes lernen wir von jenen die lebensfähige Kraft
kennen, ans der dieses so viel des Guten und Echten geholt hat.
Franz Schubert hat seinen Ausgang vom Volksliede genommen;
und unter den Kirchenchorwerken Haydns erfreut sich die Maria¬
zeller Messe wegen ihrer Volkstümlichkeit der größten Beliebtheit.
In allen deutschen Gauen beginnt es sich zu regen. Die volks¬
bildnerischen Bestrebungen werden in den Vordergrund gerückt. Hat
man schon genügend darauf hingewiesen, welche erzieherischen Werte
in unserem heimischen Liede ruhen?
Bei den Griechen, deren Gesetze und Künste heute noch auf
uns wirken, bildeten Musik und Gesang geradezu die Grundlage
allen Unterrichtes. Glaubens- und Sittenlehre wurden auf dem
Wege des Gesanges mitgeteilt, jede körperliche Arbeit mit einer be¬
sonderen Art von Liedern begleitet.
Die gegenwärtige wahnsinnige Teuerung hinterläßt ihre bösen
Spuren auch im Gemütsleben. Der Großteil der Bevölkerung kann
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