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Der Sommerfeldzug 1914 gegen Rußland
„1. Armee hat nördlich der Tanewregion das Vordringen des Feindes
nur zu verzögern, ohne einen entscheidenden Kampf anzunehmen. Ab*
schieben der Trains fortsetzen und nötigenfalls die Armee hinter den San
zurückführen, dort in der Strecke von der Mündung bis zur Trzebosnica
festhalten. Straße Bilgoraj—Sieniawa mit Kavallerie und Détachements
sichern."
Mit dieser Entwicklung bei der 1. Armee und der Rückenbedrohung
bei der 4. war für die Heeresleitung noch am 9. abends die Frage brennend
geworden, ob nun nicht auch die Schlacht bei Rawa Ruska—Lemberg
abgebrochen werden sollte. Ernste Begründungen hätte es genug gegeben ;
aber das eiserneWollen Conrads triumphierte über alle Bedenken. „Manche
Schlacht wurde zu einem Erfolge des Gegners, weil sie vorzeitig ver¬
loren gegeben wurde Mit Recht gilt ein verfrühtes Aufgeben des
Kampfes als schwerer Verstoß1)." So spielten denn der Generalstabs¬
chef und der entschlossen alle Verantwortung teilende erzherzogliche
Oberbefehlshaber noch eine letzte Karte aus. Wohl gestattete es die knappe
Frist, die gegeben war, nicht mehr, im Sinne früherer Entschlüsse plan¬
mäßig das Wirksamwerden der zur Umfassung angesetzten Armeen Böhm-
Ermolli und Boroevic abzuwarten. Nicht mehr Teile, sondern die ganze
Ostfront des in seinem westlichen Ausläufer schon nachgebenden weiten
Bogens, in welchen die Schlachtfront gespannt war, sollte sich noch ein¬
mal zu einem großen gemeinsamen Angriff erheben, dem es gegönnt sein
konnte, in zwölfter Stunde das Kriegsglück doch noch geneigt zumachen.
Demgemäß lautete der am 9. September abends erlassene Befehl: „Kon¬
zentrischer Angriff gegen den im Räume um Lemberg befindlichen Feind
mit 2., 3. und Hauptteil der 4. Armee. Linker Flügel der 4. Armee im
Verein mit Gruppe Erzherzog Joseph Ferdinand hat diesem Angriff Flanke
und Rücken zu decken."
Zur gleichen Stunde, als sich das k. u. k. AOK. zu diesem letzten Ver¬
such, den Erfolg an die öst.-ung. Fahnen zu knüpfen, durchrang, nahm
unter dem Eindruck der Meldungen über das Nachlassen des Gegners
südlich von Lublin auch in den Hauptquartieren des Gen. Iwanow und
seiner Armeeführer der weitere Feldzugsplan schärfere Linien an. Es
hätte wohl nicht erst der steten Erinnerungen Rußkis bedurft, um Iwanows
Aufmerksamkeit auf Flanke und Rücken der k. u. k. 4. Armee zu lenken.
Die Hoffnung, der offenbar die Wiedereroberung Lembergs anstrebenden
öst.-ung. Hauptkräfte durch Brussilow und Rußki Herr zu werden, war
in den letzten Schlachttagen begraben worden. Es war nach den Meldungen
i) Conrad, IV, 693.