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seines Willens. Er scheint sich ein großartiges Ideal gebildet zu haben, das er
immer vor Augen hielt und verfolgte und welches zur Wirklichkeit werden sollte.
Er wuchs in der Schule des Lebens auf, in einer Zeit, wo ein großer Um¬
schwung in mannigfaltiger Hinsicht sich gestaltete; er sah die Neuerungen, die
Fortschritte, erkannte, was Noth that, was gut oder schlecht war, sah die
Mühe und das edle Streben seiner Mutter, der erhabenen Kaiserin, ihren
Staat groß und mächtig zu machen, das Wohl ihrer Unterthanen zu begrün¬
den; er sah, wie unabweisbar der Geist der Zeit auch sie mit sich fortzog, wie
sie denselben zu bändigen und zu lenken suchte, nicht überall ihm huldigend. Er
konnte beobachten und that es, bildete sich Grundsätze für die Zukunft, wenn er
einst als Herrscher des großen Reiches auftreten würde. Er bemühte sich auch
sehr, seine Pflichten und alle Zweige der Verwaltung kennen zu lernen. Zu sei¬
ner hohen Bildung, zur Reife seiner Ansichten trugen sehr vieles seine großen
Reisen bei; er lernte seine Staaten und Völker näher kennen, aber auch andere
Länder, ihre Gesetze, Sitten und Einrichtungen, das Gute und das Schlechte,
er betrat die Paläste der Großen, wie die Hütte des Landmannes, war selbst
allen zugänglich und fesselte alle durch seine Leutseligkeit an sich. Einfach war
seine Kleidung und Lebensweise, er selbst war abgehärtet, kräftig am Körper
und am Geiste. Er prüfte mit eigenen Augen, unerkannt von Andern, beobach¬
tete so heller und genauer und machte oft tiefe Blicke in die Gesinnungen und
Bedürfnisse der Unterthanen, in die Mängel des Staates und der Verwaltung
und in die nöthigen Reformen. Ein Vorbild für ihn war oftmals auch der große
Friedrich von Preußen, den er freilich nicht in allem Guten erreichte, aber in
manchen Stücken auch weit übertraf, an Herzensgüte, an Sinn für Kunst und
deutsche Wissenschaft, die jener geringschätzte.
Kaiser Joseph, aufgewachsen in einer Zeit, wo viele alte, morsche Formen
brachen und einstürzten, wo die wohlthätigen Wirkungen neuer Gesetze und
Einrichtungen deutlich vor Augen standen, seine Völker liebend, überall das Gute
wollend, im Drange Großes zu leisten, vom Zeitgeiste dahingeriffen, oft glänzen¬
den Theorien folgend, wollte aber alles auf einmal umgestalten, schnell vollenden,
was Maria Theresia erst begonnen, und schnell beginnen, wo sie noch gezaudert;
doch er und jene Männer, die mit ihm an der Spitze standen, waren zu weit
vorausgeeilt, mit ihrem rastlosen Willen wollten sie gleich alles vollführen, allein
die Völker standen noch zu weit zurück, konnten vieles nicht fassen, sahen in den
großartigen Neuerungen überall nur Verletzungen ihrer Rechte, Beeinträchti¬
gungen ihrer Interessen, ihrer angewöhnten Bedürfnisse und zur Natur gewor¬
denen Gewohnheiten; zäher hingen sie an Vorurtheilen, als am Wahren und
Vernünftigen. Josephs schnelle Reformen setzten ganz andere Menschen voraus,