Volltext: Zweiter Band (Zweiter Band 1847)

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seines Willens. Er scheint sich ein großartiges Ideal gebildet zu haben, das er 
immer vor Augen hielt und verfolgte und welches zur Wirklichkeit werden sollte. 
Er wuchs in der Schule des Lebens auf, in einer Zeit, wo ein großer Um¬ 
schwung in mannigfaltiger Hinsicht sich gestaltete; er sah die Neuerungen, die 
Fortschritte, erkannte, was Noth that, was gut oder schlecht war, sah die 
Mühe und das edle Streben seiner Mutter, der erhabenen Kaiserin, ihren 
Staat groß und mächtig zu machen, das Wohl ihrer Unterthanen zu begrün¬ 
den; er sah, wie unabweisbar der Geist der Zeit auch sie mit sich fortzog, wie 
sie denselben zu bändigen und zu lenken suchte, nicht überall ihm huldigend. Er 
konnte beobachten und that es, bildete sich Grundsätze für die Zukunft, wenn er 
einst als Herrscher des großen Reiches auftreten würde. Er bemühte sich auch 
sehr, seine Pflichten und alle Zweige der Verwaltung kennen zu lernen. Zu sei¬ 
ner hohen Bildung, zur Reife seiner Ansichten trugen sehr vieles seine großen 
Reisen bei; er lernte seine Staaten und Völker näher kennen, aber auch andere 
Länder, ihre Gesetze, Sitten und Einrichtungen, das Gute und das Schlechte, 
er betrat die Paläste der Großen, wie die Hütte des Landmannes, war selbst 
allen zugänglich und fesselte alle durch seine Leutseligkeit an sich. Einfach war 
seine Kleidung und Lebensweise, er selbst war abgehärtet, kräftig am Körper 
und am Geiste. Er prüfte mit eigenen Augen, unerkannt von Andern, beobach¬ 
tete so heller und genauer und machte oft tiefe Blicke in die Gesinnungen und 
Bedürfnisse der Unterthanen, in die Mängel des Staates und der Verwaltung 
und in die nöthigen Reformen. Ein Vorbild für ihn war oftmals auch der große 
Friedrich von Preußen, den er freilich nicht in allem Guten erreichte, aber in 
manchen Stücken auch weit übertraf, an Herzensgüte, an Sinn für Kunst und 
deutsche Wissenschaft, die jener geringschätzte. 
Kaiser Joseph, aufgewachsen in einer Zeit, wo viele alte, morsche Formen 
brachen und einstürzten, wo die wohlthätigen Wirkungen neuer Gesetze und 
Einrichtungen deutlich vor Augen standen, seine Völker liebend, überall das Gute 
wollend, im Drange Großes zu leisten, vom Zeitgeiste dahingeriffen, oft glänzen¬ 
den Theorien folgend, wollte aber alles auf einmal umgestalten, schnell vollenden, 
was Maria Theresia erst begonnen, und schnell beginnen, wo sie noch gezaudert; 
doch er und jene Männer, die mit ihm an der Spitze standen, waren zu weit 
vorausgeeilt, mit ihrem rastlosen Willen wollten sie gleich alles vollführen, allein 
die Völker standen noch zu weit zurück, konnten vieles nicht fassen, sahen in den 
großartigen Neuerungen überall nur Verletzungen ihrer Rechte, Beeinträchti¬ 
gungen ihrer Interessen, ihrer angewöhnten Bedürfnisse und zur Natur gewor¬ 
denen Gewohnheiten; zäher hingen sie an Vorurtheilen, als am Wahren und 
Vernünftigen. Josephs schnelle Reformen setzten ganz andere Menschen voraus,
	        
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