Volltext: Studien zur Weltkrise

der Wirklichkeit? Die russische Duma, die französische Kam¬ 
mer, das englische und italienische Parlament, stehen sie nicht 
alle bös angefressen von der Kriegskrankheit mit zusammen¬ 
gebissenen Zähnen um das Programm „Krieg bis zum 
äußersten" geschart — und das, während die Majoritäten 
der Völker in Rußland, Frankreich, England und Italien 
sicher wenigstens ebenso friedenskrank sind wie die deutsche! 
Was bedeutet nun das: Parlamente, die sich gegen ihren 
eigenen Volkswillen anstemmen, und noch dazu im bösen 
Namen des Krieges! Es sieht wirklich so aus, als müßten 
einige der Grunddogmen von 1789 im 20. Jahrhundert revi¬ 
diert werden. Wer weiß, daß sich die Parlamente in West¬ 
europa zu Staatsorganen ausgewachsen haben, wird aber 
nicht überrascht, wenn er die Kluft zwischen ihnen und den 
privaten Hauptstimmungen der Länder entdeckt. Die Grenze 
zwischen Staatswillen und Volkswillen läuft also nicht immer 
nur zwischen Regierung und Reichstag: sie kann auch zwischen 
Reichstag und Allgemeinheit liegen. 
ES lohnt sich, diese Solidarität zwischen Regierungen und 
Reichstagen gegenüber dem friedliebenden Volk zu beachten, 
weil dadurch auch alle gewohnheitsgemäßen Begriffe von 
Regierungsverantwortlichkeit auf den Kopf gestellt werden. 
Nach dem demokratischen Katechismus ist der Reichstag ein 
Korrektivmittel gegenüber der Regierung: sobald diese einen 
Schritt gegen den Volkswillen tut, steht der Reichstag über 
ihr, mit dem scharf schneidendem und sicher treffenden Schwert 
der Ministerverantwortlichkeit in der Hand. Was sehen wir 
jetzt? Die Ententeminister aller Großmächte, die zu Beginn 
des Krieges dabei waren, haben ihre Posten verlassen müssen 
— während Bethmann Hollweg ebenso wie Radoölavow 
und Enver Pascha noch da sind — aber keiner von jenen 
ist gefallen, weil er sich dem wachsenden Friedenswillen 
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