Leidenschaftliche innere Fehden, Thronstreitigkeiten und ein Königsmord,
der die Dynastie der Karageorgewitsch nach Belgrad zurückführte, er-
schütterten den jungen Staat, aber die weithin ausgesteckten nationalen
Ziele litten keinen Schaden. Als Griechen und Türken sich im Jahre 1897
um den Besitz Kretas schlugen, rückte das Serbentum zum Vormarsch auf
Saloniki zusammen. Der türkische Sieg bannte die Serben noch eine Weile,
dann brachte der Ausbruch der jungtürkischen Revolution und der Sturz
Abd ul Lamids II. plötzlich alles in Bewegung. Die Türkei schien der Auf.
lösung verfallen, die Stunde der Aufteilung gekommen. Eine europäische
Krise zog herauf. Alle Balkanvölker rüsteten, Italien erschien am Ostufer
der Adria. Osterreich-Llngarn fühlte seine Stellung in Bosnien bedroht,
und Rußland ließ die Zügel locker, an denen es die Südsiawen leitete.
Die großserbische Propaganda warf ihre Wellen von Skutari bis
Radkersburg.
Da raffte Österreich sich zu einem Gewaltstreich auf, indem es die Man-
datsgebiete der Doppelmonarchie einverleibte und der Pforte das Sandschak
Rowibasar zurückgab. Osterreich-Angarn tat den kühnen Schritt in der Er
kenntnis, daß nicht nur seine Balkanstellung gebrochen, sondern auch sein
Bestand gefährdet war, wenn die großserbische Bewegung die öfter,
reichischen und ungarischen Südprovinzen in ihrm Wirbel riß. Aber das
Österreich Franz Josephs war nicht mehr das Eugenische Österreich, das auf
den Siegen des Savoyers zur ersten Balkanmacht aufgestiegen war. Serbien
erblickte in ihm nicht mehr den Beschützer, sondern den Bedrücker. Rassen-
gefühl und Nationalitätenprinzip warm stärker geworden als dynastisch
geordnete Staatsgemeinschaft und anerzogme Kulturgenossenschaft. Das
Serbentum verzichtete mitnichten auf die Erweckung eines großserbischen
Reiches, und Rußland dachte nicht daran, seiner Vormachtstellung auf
dem Balkan zu entsagen. Auch die Westmächte erhoben Einspruch gegen die
Verkündigung der Annexion, selbst die Pforte wandte sich gegen den selbst,
herrlich gefällten Spruch. Wäre Deutschland nicht mit hartem Schritt an
Österreichs Seite getteten, Rußland nicht durch die in Ostasim erlittenen
Niederlagen und revolutionäre Wirren geschwächt gewesen, so hätte das
Jahr 1909 Europa in Waffen gesehen. Der Serbe rief schon im geheimen
zum Volkskrieg auf. Die Katastrophe ist beschworen worden, da Kriegs-
gründ und Kriegsbereitschaft noch zu wünschen ließen, aber Europa stand
fortan auf der Schwelle eines" allgemeinen Krieges. Serbien rüstete von
diesem Augenblick an bewußt und entschlossen auf den kommenden Tag.
Französisches Geschütz rollte auf den serbischen Bahnen und große Muni-
tionsstapel erhoben sich in den serbischen Festungen. Doch nicht dem Öster
reicher, sondern dem Osmanm galt der erste Stteich.
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