Volltext: Braunauer Heimatkalender 1920 (1920)

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Willenskraft rafft er sich noch einmal auf. Die an dem glühenden Kessel ver¬ 
brannten Hände tasten nach dem Dampfhebel, zerren daran — drücken ihn endlich 
nieder. 
Schon hat er auch den Griff der Vakuumbremse gepackt. Da taucht er plötz¬ 
lich in die Glut der Hölle. Um ihn zischt und brodelt, glüht und sprüht es. Dunkel 
wird es um ihn. Wütend würgt es in seiner Kehle. Ein wahnsinniger, unnatürlicher 
Schmerz packt ihn am Kopf, an der Brust, den Armen. Die Knie brechen ein. Und, 
noch im -stürzen den Griff der Vakuumbremse niederreißend, wird er herumgewirbelt, 
fortgeschleudert... 
In dem Dienstraum der Hauptbahnstation „Langer Tunnel" klapperte heftig 
der Morseapparat. Der Telegraphist legte Zigarre und Zeitung aus der Hand, um 
die Meldnng entgegenzunehmen. 
Aber kaum hatte er einige Worte auf dem ablaufenden Papierstreifen gelesen, 
als er auch schon mit dem lauten Ruf: „Herr Assistent — Herr Assistent!" erschreckt 
von seinem Stuhl emporsprang. 
„Was ist denn los?" dröhnte eine ärgerliche Stimme aus dem 'Nebenraum/ 
und gleich darauf erschien die breitschultrige Gestalt des Stationsbeamten in der 
offenen Tür. 
Einen Augenblick schnappte der Telegraphist nach Luft, dann sprudelte er er¬ 
regt hervor: 
„Um Gotteswillen — Herr Assistent — in Waldburg hat der Sturm drei 
beladene Güterwag n aus die (strecke getrieben. Die rollen nun hinter dem Per¬ 
sonenzug her! ■— Wenn es dem Wärter nicht gelingt, sie vor dem Gefälle zur Ent¬ 
gleisung zu bringen,, dann ist der Zug verloren! — Der Führer muß wegen der 
scharfen Kurve am „Todeseck" langsam fahren — muß — muß — bedenken Sie 
doch nur! — Er kann ja nicht ausweichen 7- " 
Aber der Stationsbeamte hörte schon nicht mehr. 
Mit weit aufgerissenen Augen hatte er nur aus die ersten Worte des Tele¬ 
graphisten gelauscht. Momentan schwirrte ihm der Kopf. Dann flog er an den Signal¬ 
apparat und wirbelte die Kurbel wie toll herum. 
Auf dem Bahnsteig, in den Räumen des Dienstpersonals, an der Bahnmeisterei, 
überall wimmerte sofort das Alarmsignal. 
Hastig seine Dienstmütze auf den Kopf schlagend, stürmte er hmm hinaus aus 
den Perron, wo bereits von allen Sei*?« die Bahnbediensteten zusammenströmten. 
Aber ehe er noch imstande war, irgend einen Befehl zu rufen, puffte heftig eine 
weiße Dampfwolke aus der Tunnelmündung. Und hinter dieser raste in wahnsinniger 
Fahrt der Personenzug her, sauste mit festgebremsten Rädern, welche auf den Ge¬ 
leisen einen wahren Funkenregen auslösten, wie ein entfesselter Dämon durch den 
Bahnhof und kam erst weit draußen auf der Strecke zum Stehen. 
Der Ruck, mit dem der Zug aus voller Fahrt zum Halt überging, war so 
heftig, daß die beiden letzten Wagen aus denr Geleise sprangen. Glücklicherweise 
legten sie sich nich auf die Seite, sondern blieben mit tief in den Kies qetoiiMten 
Achsen aufrecht stehen. 
Minutenlang rührte sich nichts an dem Zuge. Aber dann wurde es lebendig, 
dort. Türen und Fenster flogen auf. Und ein solch wahnsinniges Schreien, Heulen 
nnd Toben brach los, daß der eilig dem vorbeisausenden Zuge nachlausende Stations¬ 
beamte unwillkürlich stehen blieb und sekundenlang fassungslos auf das Tohuwabohu 
da vor sich starrte. Dann hastete er eilig weiter.
	        
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