Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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Vielleicht ist Goethe gar kein unbedingter Meister der Erzählung 
in Prosa gewesen. Es scheint, daß ihm, sobald er die strengeren poetischen 
Formen verliest und sich frei im ungebundenen Wort bewegte, die Fülle 
der Welt und seines Innern jedesmal so überwältigend entgegen strömte, 
dast er von Anfang an das Unmögliche einer rein artistischen Darstellung 
erkannte oder fühlte und sich beschied, als Erzähler dem Menschlichen in allen 
Formen nachzugehen, wobei er die Form des Gespräches, des Briefes, der 
Tagebücher, auch die der direkten Belehrung nicht verschmähte. Auch sein 
formal vollkommenstes Prosawerk, die Wahlverwandtschaften, ist nicht 
von diesen technischen Mängeln oder Sorglosigkeiten frei. Auf Seiten einer 
reinen, anschaulichen, sinnlich gegenwärtigen Darstellung, die niemand 
übertroffen hat, folgen lose Sätze und Seiten von plauderhaft mitteilender 
oder belehrender Art, ein direktes Verhältnis zum Leser tritt oft unerwartet 
stark und naiv hervor. Von Goethes Prosa jene bescheidene Selbstbeschrün- 
kung des reinen Erzählers zu verlangen, welche jede Regung, jedes Mit 
teilungsbedürfnis, jedes Verlangen nach direktem persönlichem Wirken 
zugunsten einer rein anschaulichen Darstellung unterdrückt, das wäre dasselbe, 
als wenn man vom Faust eine strenge Unterordnung unter die Theater 
bedürfnisse verlangen wollte. Goethe ist, in gewissem Sinne, immer ein 
Dilettant gewesen, ihm war die Dichtung nicht nur Tempel und Gottes 
dienst, nicht nur Bühne und Festgewand, sie war ihm, dem Universalen, 
das universalste Organ, mit dem er sich nach austen wandte, um die Weisheit 
seines Inneren, um seine tausendfach erlebte Lehre der Liebe auszusprechen 
und mitzuteilen. Wie der Faust kein Theaterstück ist, so ist der Meister keine 
Erzählung. Er ist viel mehr. Und dennoch, es ist sonderbar, sind auch diese 
Gebilde einer autzerordentlichen Seele übervoll von Kunst, von direktem, 
meisterhaftem Können sowohl wie von tiefer Ahnung größerer, noch uner 
füllter, noch unerfüllbarer Formen. Jeder literarisch gute Roman von heute 
achtet gewisse Regeln, gegen welche Goethe sorglos verstößt; im Kleinen 
und Einzelnen der Technik ist er zu übertreffen und wurde übertroffen. 
Aber nicht nur die Weite des Umfangs und die reife Größe der Menschlichkeit, 
die wir im Wilhelm Meister finden, ist nie wieder erreicht, sondern es ist auch 
nie wieder ein ähnlich großes Wollen im Roman formal so schön und 
meisterlich gezügelt und erlöst worden. Daß der Meister schließlich eine 
Art von Torso blieb, daran ist nicht Goethes Mangel an technischer Vollendung 
schuld, sondern einzig die ungeheure Weite des Horizontes, den er in einem 
einzigen Werke aufzuspannen unternahm. 
Aus Wilhelm Meisters „theatralischer Sendung" sind Wilhelnr Meisters 
„Lehrjahre" geworden, aus dem Künstlerroman der Roman des Menschen. 
Roch immer nimmt das Theater einen großen Raum und eine tiefe Be 
deutung ein, aber Wilhelms theatralische Laufbahn mündet, ohne daß ihr
	        
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