Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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Wie Goethes Roman der Erbe und glückliche Nachfolger einer reichen, 
guten Tradition und Kultur gewesen ist, so wurde er, mehr als irgend 
ein anderer deutscher Roman, zum Vorbild, Erwecker und Anreger für eine 
ganze nachfolgende Literatur, ohne bis zur Stunde übertroffen, ja erreicht 
worden zu sein. Kaum waren Wilhelm Meisters Lehrjahre erschienen, so 
wurde das erstaunliche Buch, das zum erstenmal Poesie und Prosa, Schil 
derung und Empfindung so innig und köstlich verband, zum Evangelium einer 
jungen Generation. Im Meister war ein Kunstwerk geschaffen, das durchaus 
aus einer lyrisch -poetischen Begabung floß und dennoch dem Ganzen der 
Welt eine Teilnahme, Treue und objektive Darstellungskunst entgegen 
brachte, wie man sie noch nicht gekannt hatte, alle Dichtungsarten schienen hier 
zusammen zu spielen und einen wundersamen Mikrokosmos erbaut zu haben» 
ein ideales Spiegelbild der Welt. Begeistert und bis zur Hingerissenheit 
entzückt haben die damaligen Jungen dieses Werk studiert und wieder studiert, 
für den jungen Novalis wurde es geradezu zum Schicksal von Jahren. Aus 
den Schultern des Meister steht der Ofterdingen, steht Jean Pauls Titan, 
steht Tiecks Sternbald, bis zum Maler Nolten und zum Grünen Heinrich 
hin ist es Vorbild und Ideal geblieben, hundertmal nachgeahmt, studiert, 
umgefühlt, nie wieder ganz erreicht, und bis in die Zeit der Epigonen hat es 
diese Macht und Würde behalten, so erscheint uns zum Beispiel der berühmte 
Roman „Soll und Haben" noch ganz und gar im Banne dieses großen 
Musters entstanden. Erst der Naturalismus im letzten Drittel des neunzehnten 
Jahrhunderts hat den Meister als Vorbild verlassen und entthront. Neue 
geistige Zusammenhänge, neue geschichtliche Bildungen waren erschienen, 
aus jungen fremdländischen Literaturen, vor allem aus der russischen, war 
neuer Rohstoff herangewachsen. An die Stelle des sogenannten Bildungs 
romanes, deren größter der Meister blieb, trat der psychologische und der 
soziale Roman. Der Mensch war von der animalischen und geschichtlichen 
Seite her neu beleuchtet, er war wieder ein Rätsel und Problem geworden, 
er mußte neu erobert werden. Während den ernsthaften Dichtern im Kamps 
um neue Werte Großes und Wertvolles gelang, sank anderseits der Roman, 
als niedere Unterhaltungsliteratur, in seinen Ansprüchen tief herab und wurde 
zur Lieblingsform der Spekulanten sowohl wie der Dilettanten. 
Wenn nun ein durchschnittlich gebildeter Leser von heute, der von den 
wertvollen Romanen der vormodernen Zeit höchstens noch den Grünen 
Heinrich kennt, sich über die Kunstform des Romans und über die geistige 
Höhe, aus welcher einst das Bedürfnis nach dieser Form entstand, unterrichten 
will, so gibt es dazu keinen anderen Weg, als über den Wilhelm Meister. 
Und vielleicht wird auch die Literatur, sobald wieder den Zeiten der Er 
oberung und des Chaos eine Zeit des ordnenden Besitzens und Genießens 
folgt, eines Tages wieder dankbar zu diesem Vorbilde zurückkehren. 
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