Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

Eckart 
Ein deutsches Literaturblatt 
Herausgegeben vom Zentralverein zur Gründung von Volksbibliotheken 
Zugleich Organ der Deutschen Zentzralstelle 
zur Förderung der Volks- und Jugendlektüre 
Jahrgang 1913/14. Nr. 5. Februar. 
Inbalt: Hermann Hesse: Wilhelm Meisters Lehrjahre. - Victor Blüthgen: Lite 
rarische Erinnerungen IV. — Julius Havemann: Sebastian Sailer. - Dr. Joseph 
Faßbinder: Die Ironie in der Romantik - Lesefrüchte: Glockenfranzl. Märchen 
novelle von Hans Franck. (Forts.) - Kritik: Zum Gedächtnis Richard Weltrichs. 
Von Mathilde von Leinburg. - Von den Berliner Bühnen. XXVI. Von Hans 
Franck. - Kurze Anzeigen. - Bibliotheksnachrichten - Mitteilungen. - Anzeigen. 
Milhelm Meisters Lehrjahre. 
Eine Einführung von Hermann Hesse.*) 
Das achtzehnte Jahrhundert ist die letzte große Kulturepoche Europas 
gewesen. Sie hat in den bildenden Künsten, vor allem in der Baukunst, 
Geringeres geleistet als frühere große Zeiten; aber in ihrer internationalen, 
ganz Europa umfassenden Geistigkeit hat sie eine Macht und Weite erreicht, 
an deren Glanz und Andenken wir als ärmere Erben noch immer zehren. 
Eine edle, großzügige Fornr von Humanismus, eine unbedingte Ehrfurcht 
vor der menschlichen Natur und ein idealer Glaube an die Größe und Zukunft 
menschlicher Kultur spricht aus allen Zeugnissen jener Zeit, auch aus denen 
der Satiriker und Spötter. Der Mensch ist an die Stelle der Götter gerückt, 
die Würde des Menschentums ist die Krone der Welt und das Fundament 
jedes Glaubens geworden. Diese neue Religion, deren revolutionäre An 
fänge in England und Frankreich liegen, deren tiefster Prophet Kant und 
deren letzte Blüte Weimar gewesen ist, dieser ideale Humanismus ist die 
Grundlage einer unsäglich reichen Kultur gewesen, die uns Enkel schon mit 
dem Zauberglanz des Unbegreiflichen blendet, und gegen deren mahnende 
Übermacht wir uns nicht selten durch Spott zu wehren suchen, indem wir die 
dekorative Außenseite jenes Geistes als hohl und spielerisch zu erkennen 
meinen. Wir lächeln über die beschnittenen Gartenhecken, über die ge 
schweiften chinesischen Dächer und schnörkelhaft launigen Porzellanfiguren 
jenes Jahrhunderts, obwohl weder unsere Gärten noch Dächer, noch andere 
solche Kultursymbole und Kultursymptome seither irgend besser oder schöner 
*) Die Eckartleser werden sich freuen, von so seiner Hand in „Wilhelm Meister" 
eingeführt zu werden. - In der Beurteilung des 18. Jahrhunderts sind natürlich 
mancherlei Standpunkte möglich. Die Red. 
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