Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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nehmen der Rangunterschiede fast einen kindlich rührenden Eindruck, so 
wenn im Dilettantentheater in Hochdorf der alte Forstmeister, der sich selbst 
ziemlich mäßig benimmt, „mit der größten Verehrung empfangen"' wird. 
Wilhelm, dessen Sein und Leben auf Liebe beruht, ist beständig 
auch von Frauenliebe umgeben. In den Armen seiner ersten Geliebten 
erwacht er zur Freudigkeit, ein neues, eigenes Leben zu beginnen, und 
vom Verlust dieser Geliebten bis zum Finden der wahren Braut hat er es 
immerfort mit Frauen zu tun, wird er immerzu gereizt, gelockt, an die Ver 
lorene erinnert oder ahnungsvoll an die Zukünftige gemahnt, und bis zum 
letzten Augenblicke, da es beinahe zu spät ist, irrt er zwischen ähnlichen, ver 
wandten Bildern hin und wieder, seiner Ahnung sicher, aber durch die Spiele 
der Wirklichkeit verwirrt. Die Laune seiner Verliebtheiten gibt seinem 
Lebensgang die eigene, spielerisch reizende Linie, aber das Spiel ist niemals 
nur Spiel, es steht fühlbar immer der tiefe Ernst dahinter. Wilhelm hat von 
der kleinen Lebenskünstlerin Philine nichts zu lernen; für ihn ist Liebe die 
Krone des Lebens, an der kein Makel haften darf. Er verliebt sich in die 
Gräfin, damit beginnt die seltsame Umkreisung, mit der er endlich zur wahren 
Geliebten hinfindet, welche die Schwester der Gräfin ist, und obwohl der 
erste Anblick Nataliens ihn wie ein Blitz ins Herz trifft und verwundet läßt, 
irrt er doch und sucht und taumelt in dumpfem Liebestraum noch lange 
weiter, des Weges ungewiß, so daß die endliche Befreiung durch Natalie kein 
Elücksfallund schöner Fund mehr ist, sondern höchstes Schicksal und endliche 
Vereinung von Kräften, die seit langem dunkel zueinander gestrebt haben. 
Genug der Einzelheiten! Wir wollen den Wilhelm Meister nicht 
erschöpfen und erklären, wir wollen die Vielfältigkeit dieses tausendfädigen 
Gewebes nicht aufzulösen suchen. Wir wollen trachten, ihn dankbar zu 
genießen, von ihm zu lernen, ihn recht zu besitzen. Das große, seltsame Buch 
hat für jeden Leser eine Stimme, für jeden ein Glück, für jeden eine Mahnung, 
für jeden einen tiefen, nie auf einmal zu umfassenden Wert, nur nicht für den 
Lieblosen, den Ungläubigen, den Bösen. Wen der animalische Mensch 
mehr anzieht als der kultivierte, wer die Schönheit des Chaos der Schönheit 
menschlicher Ordnung vorzieht, für den ist im Wilhelm Meister nichts 
Heiliges zu finden. Für den bleibt er höchstens ein schönes, gescheites, über 
legenes Buch, interessant durch seine scharfäugige Beobachtung des Lebens, 
durch die Mannigfaltigkeit seiner Bilder, lesenswert wegen seiner schönen 
und wahren Einzelheiten. Wer hingegen fähig ist, sich selbst an Wilhelm 
Meisters Stelle zu fühlen, mit ihm zu lieben, mit ihm zu irren, mit ihm 
an die Menschheit zu glauben, mit ihm die Dankbarkeit, die Ehrfurcht, die 
Gerechtigkeit zu pflegen, dem ist dieser Roman kein Buch mehr, sondern 
eine Welt der Schönheit und Hoffnung, ein Dokument der edelsten Mensch 
lichkeit und eine Bürgschaft für den Wert und die Dauer menschlicher Kultur. 
Der so geartete Leser wird in jedem Satze Freude und Bestätigung des Besten 
in sich selber finden, aber er wird keinen Satz, keine Einzelheit zur Haupt-
	        
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