Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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Wirkungen sind nur dem Zauber echter Dichtung möglich. Überhaupt gibt 
es keinen gewisseren und keinen gefährlicheren Prüfstein für den rein poetischen 
Wert von Dichtungen, als die Erinnerung an Details. Hier bewährt sich 
der Wilhelm Meister in seiner rätselhaften Zauberei jedesmal ganz über 
raschend. Der Leser erinnert sich an Szenen, an Personen, Begegnungen, 
Gespräche, und wo immer er nachschlägt und nachprüft, findet er, was in 
seinen! Gedächtnis breit und detailliert dastand, präzise und sparsam aus 
gedrückt. Goethes Worte sind oft wie Samenkörner, die erst nach dem Lesen 
aufgehen und zu wachsen beginnen. Das kommt daher, daß sie selbst nicht 
launige Gebilde des Augenblicks, sondern Früchte der Erfahrung und zehn 
mal gesiebt und konzentriert sind. So schreibt Goethe selbst, als er im März 
1795 an die Ausarbeitung der „Bekenntnisse einer schönen Seele" geht: 
„Vorige Woche bin ich von einem sonderbaren Instinkte befallen worden, 
der glücklicherweise noch fortdauert. Ich bekam Lust, das religiöse Buch 
meines Romans auszuarbeiten, und da das Ganze auf den edelsten 
Täuschungen und auf der zartesten Verwechslung des Subjektiven und Ob 
jektiven beruht, so gehörte mehr Stimmung und Sammlung dazu, als viel 
leicht zu einem anderen Teile. Und doch wäre, wie Sie seiner Zeit sehen 
werden, eine solche Darstellung unmöglich gewesen, wenn ich nicht früher 
die Studien nach der Natur dazu gesammelt hätte." Diese „Studien nach der 
Natur" liegen beinahe jedem Satz im Wilhelm Meister zu Grunde, wie denn 
oft gerade solche Stellen, die mit starkem momentanem Reiz wie aus einer 
Laune geboren auf uns wirken, oft hinter sich eine erschreckend tiefe Per 
spektive von Abwarten, Beharrlichkeit, Geduld verborgen haben. Was in 
diesen Sätzen steht, das ist in Jahren und Jahren gesammelt, gesichtet, das 
hat sich gerüttelt und gesetzt, geklärt und konzentriert. Darum ist auch alles 
so voll Stil, so unantastbar, so fest und gesetzmäßig. Wie die Figuren und 
Figurengruppen des Werkes gegen das Ende hin immer sinnvoller, be 
deutender, ergreifender zusammentreten, darüber hat Schiller die herrlichen 
Worte gesagt: „Es steht da wie ein schönes Planetensystem". 
Es ist das Geheimnisvolle an Goethe, daß in seiner Hand das Selbst 
verständliche, daß die einfachen Dinge und Tatsachen des Lebens ihm, dem 
Ehrfürchtigen, beständig neu und lebendig und heilig sind. Er, der den 
Werther geschrieben hat, ist der größte Prophet für die Heiligkeit des Lebens 
geworden, nichts ist ihm ferner, nichts fremder und verhaßter, ja unverständ 
licher, als jede Art von Blasiertheit, von Teilnahmlosigkeit, von müder 
Vereinsamung, die er denn auch im Wilhelm Meister nur dem ausgesprochen 
Geisteskranken gelegentlich erlaubt. Alles zielt auf Anerkennung und För 
derung des Lebenden, auf Verehrung und Dankbarkeit, auf die Achtung 
gegen fremdes Verdienst, auf die Bereitschaft, fremdes Bedürfnis anzu 
erkennen. Es wird über Adel und Eeburtsrecht gelegentlich recht frei ge 
sprochen, dennoch ist Anerkennung des Höhergeordneten, Höflichkeit, Sorg 
samkeit guter Sitte durchweg vorausgesetzt. Gelegentlich macht dies Ernst
	        
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