Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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Konstruktion hineinsehen können, hebt nur die erstaunliche Vollendung des 
Fertiggewordenen noch klarer hervor, und indem man an diesen verräterischen 
Stellen erst die Menge und Größe der Gefahren, die Heikelkeit und peinliche 
Vielgliedrigkeit dieser zarten Konstruktion erkennt, wird man stumm und 
blickt mit neuer, geschärfter Dankbarkeit und wacherer Freude auf die tausend 
Schwierigkeiten und Gefahren zurück, die man, als vom Dichter überwunden, 
nicht wahrgenommen hat und von denen man erst jetzt eine Ahnung bekommt. 
Wie eng die äußeren Mängel des Werkes mit seinen Vorzügen zu 
sammenhängen, das zeigt kein Beispiel einleuchtender als das sechste Buch, 
das die „Bekenntnisse einer schönen Seele" enthält. Der Roman wird hier 
einfach durch die eingeschobenen Memoiren einer Stiftsdame unterbrochen, 
wobei ohne weiteres angenommen wird, daß der innere Wert dieser Mit 
teilungen den Verstoß gegen die Form der Erzählung entschuldige. Beim 
ersten Lesen geht man hierauf nicht ohne Widerstreben ein, denn so schön 
und tiefgründig dies Stück Psychologie auch sei, es unterbricht den Lauf 
des Romans, dem wir mit gespannter Teilnahme folgen, an wichtiger Stelle, 
und nicht etwa für einige Seiten oder ein kurzes Zwischenkapitel, sondern 
ein ganzes Buch hindurch. Schließlich ergibt man sich, begibt sich seiner 
Rechte auf die Fortsetzung der Geschichte Meisters, und geht erstaunt und 
dankbar durch den stillen Garten dieser zarten Bekenntnisse. Erst später, wenn 
der Leser dann längst wieder dem Schicksale Wilhelms folgt, tritt der Inhalt 
jener eingeschobenen Memoiren immer wieder und immer dringender 
als unentbehrlich in die Zusammenhänge ein, und am Ende sieht man sich 
genötigt, die Bekenntnisse, wenigstens teilweise, mit Aufmerksamkeit noch 
mals nachzulesen, um nicht wichtige Fäden zu verlieren. Beim zweiten und 
öfter wiederholten Lesen (denn den Meister muß man alle paar Jahre wieder 
lesen) wird diese scheinbar plumpe Form der Unterbrechung ein Reiz mehr, 
auf den man sich geradezu freut, und am Ende wird kein Leser sein, der das 
Juwel dieser so schön in sich abgeschlossenen Bekenntnisse zugunsten einer 
einheitlicheren und technisch einfacheren Fortführung des Romans wieder 
missen möchte. 
Mit je schärferem Auge man zuschaut, desto merkwürdiger und ver 
ehrungswürdiger treten auch die Schönheiten der Darstellung im Einzelnen 
heraus. Wie voll warmer Stimmung, wie voll Dämmerlicht und Liebes 
zauber sind die ersten Kapitel! Wie glänzt, beim Beginn von Wilhelms 
Reise, uns eine verklärte, reiche, bis in hundert Details hinein sichtbare 
Landschaft entgegen! Man erinnert sich ihrer gelegentlich, schlägt nach, 
erwartet drei, vier Seiten voll Kleinmalerei zu finden, weil man das Ge 
dächtnis voll von Anklängen und Vorstellungen hat, und man findet, seltsam 
überrascht, zehn oder fünfzehn Zeilen! Diese zehn Zeilen, im Zusammenhang 
gelesen, sind so suggestiv und bilderweckend, daß wir nach Monaten, nach 
Jahren der Lektüre schwören möchten, uns an hundert liebe, schöne Details 
darin genau zu erinnern, wovon in Wahrheit keines dasteht. Solche
	        
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