Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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und Klarheit des Ganzen wächst aus keinem Schema, aus keinem Programm 
heraus, sie hat keinen anderen Grund als die Liebe, die Liebe des Dichters 
zu allem Menschenwesen, und seinen Glauben an die Kulturfähigkeit der 
Menschen. 
Seltsam und rührend stehen inmitten dieser bei aller Buntheit doch 
völlig rationellen Welt die einsamen Figuren des Harfenspielers und der 
Mignon. Man hat sich hin und wieder um ihre Bedeutung bemüht und sich 
schließlich begnügt, in Mignon eine Personifikation von Goethes Sehnsucht 
nach Italien zu sehen. Das ist in solcher Nacktheit roh und übertrieben, auch 
würde eine solche Deutung einzelner Figuren notwendig weitergeführt 
werden müssen und es entstünde ein Herabwürdigen dieser lebendigen 
Gestalten zu Symbolen oder gar zu Allegorien, womit jedes reine Verhältnis 
3U der Dichtung zerstört würde. Gewiß ist in der Gestalt und in den Liedern 
der Mignon Goethes Liebe zu Italien zu erkennen, doch stünde eine so arme 
Eindeutigkeit inr Gegensatz zu dem ganzen, schillernden Reichtum der Be 
ziehungen und Bedeutungen, mit denen das Buch geheimnisvoll erfüllt ist. 
Der Harfenspieler und Mignon sind die einzigen rein poetischen Gestalten 
des Romans, die einzigen, welche außerhalb der verständigen Welt im 
farbigen Dämmerlicht rein dichterischer Existenzen schweben. Sie sind die 
schönsten und innigsten Gebilde des ganzen Buches, und doch rächt sich 
gerade an ihnen jene Zwiespältigkeit der Orientierung, welche Schiller dem 
Roman vorwirft. Die Auflösung dieser beiden Schicksale ins Ganze des 
Romans nämlich, die „Erklärung" und die Zurückführung der beiden schönen 
Schatten ins Reich der Wirklichkeit ist die schwächste Stelle im ganzen Kunst 
werke. Hier sind die Forderungen der Poesie mit denen des Verstandes 
nicht vereinigt, und bei jeder neuen Lektüre des Wilhelm Meister geht man 
jenen Seiten, auf welchen Mignons Rätselgestalt demaskiert und ihr irdisches 
Schicksal aufgezeigt wird, mit ernüchtertem Bangen entgegen. Hier ist 
eine der Stellen, wo das mächtige Gebäude dieser Dichtung die nackte, roh 
gefügte Zimmerung herzeigt. Es gibt noch andere solche Stellen, einige 
voll befreiender Offenheit zugestandener Unzulänglichkeit, andere mas 
kierter und feiner vertüncht — aber ich weiß nicht, ob es nur mir allein so 
geht: mir ist gerade an diesen heiklen Stellen Goethe besonders lieb, seine 
große Gestalt wird menschlich und scheint zu lächeln, und das Ganze seines 
großen Romans, die fast übermenschliche Ungeheuerlichkeit des Gewollten, 
Versuchten, Gekonnten, wird angesichts dieser Stellen des Versagens mir 
stets doppelt ehrwürdig und groß. Wie es kein großes Kunstwerk gibt, das 
nicht aus Liebe entstanden wäre, so gibt es kein edles und förderliches Ver 
hältnis zu Kunstwerken als durch die Liebe, und wem an jenen Punkten, 
wo auch in großen Dichtungen ein Rest von menschlicher Schwäche vortritt, 
nur Kritik oder gar Schadenfreude zu Gebote steht, der wird immer 
arm und hungrig von diesen reichen Tischen gehen müssen. Jede Ritze, durch 
die wir in den gewaltigen Bau des Wilhelm Meister, in das Innere seiner
	        
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