Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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ohne Kämpfe und widerstrebende Selbstliebe, aber stets von jener höheren 
Liebe geleitet und bezwungen. So ist der Mensch beschaffen, den die großen 
und guten Geister jener Zeit sich wünschten und erhofften, den sie heranzu 
bilden strebten, von dem sie die Erfüllung ihrer großen Menschheitswünsche 
erwarteten. An ihn hat Schiller seine Briefe und Abhandlungen gerichtet, 
von ihm hat Friedrich der Große die Zukunft erwartet, von ihm hat Mozart 
in der Zauberflöte gesungen. 
Mit Dankbarkeit denkt Wilhelm Meister seiner Kindheit, von welcher 
er bis in die tiefe Nacht hinein seiner ersten Geliebten erzählt, während sie 
mit dem Schlummer kämpft. Mit rührender Dankbarkeit hängt er an der 
Geliebten selbst, und als er sie untreu findet und verloren hat, kämpft er ver 
zweifelnd um ihr Bild und geht unermüdlich mühevolle Wege, dies getrübte 
Bild in seiner Reinheit wieder herzustellen. 
Mit Ehrfurcht pflegt Wilhelm die Erinnerungen seiner Vergangen 
heit, mit Ehrfurcht achtet er Rang und Macht der Höherstehenden, mit 
höchster Ehrfurcht und Dankbarkeit liebt er das Genie, das ihm in Shake 
speares Werken zum erstenmal entgegentritt. 
Mit reinem Willen zur Gerechtigkeit lebt er unter gemeinen und 
undankbaren Menschen, jedem von den wenig edlen und wenig liebens 
werten Schauspielern seines Umganges sucht er gerecht zu werden. Mit 
Achtung anerkennt er die Gaben anderer. Und was an ungestillter Liebe 
in ihm bleibt, das gibt er der unseligen Aurelie, den: zerrütteten Harfen 
spieler, der sterbenden Mignon. 
In die Atmosphäre solcher Liebe, die auf einem ehrfürchtigen Glauben 
an die Menschheit ruht, ist das ganze Werk gehüllt wie in eine goldig warme 
Luft. Dem bedächtigen, sparsamen Kaufmann, dem armen Teufel von 
kleinem Komödianten, dem pedantischen und eingebildeten Grafen, dem 
dilettantischen Baron, dem eitlen und genußsüchtigen Schauspieldirektor, 
der hübschen, leichtlebigen Philine, dem frechen galanten Abenteurer 
Friedrich, jedem und jedem haftet neben aller stark charakterisierten Schwäche 
und Unwürdigkeit ein Schimmer von unangreifbarem Menschenwerte an, 
eine Liebenswürdigkeit und heimliche Schönheit, in jedem leuchtet eine kleine 
Flamme vom großen Liebesfeuer, jeder hat neben seiner Jämmerlichkeit 
seinen Teil von des Dichters Ehrfurcht vor allem Seienden, und keiner wird 
verdammt. Dabei gleicht keiner dem andern, dabei geschieht jedem Charakter 
und jeder Charakterlosigkeit ihr Recht, die menschliche Torheit spielt in allen 
Färben, und in hundert kleinen Zügen lacht frei der Humor. Nur das Ganze 
bleibt unangetastet, die Bestimmung des Menschen, die ein Einzelner hundert 
mal verfehlen und der er hundertmal Hohn sprechen kann und welcher er doch 
irgendwie im Stillen dienen und untertan sein muß. 
Und wieder sind die Edlen und Wertvollen, die Träger des Ideals, 
ebenso wie Wilhelm selbst, überall Menschen und in ihren Sonderlichkeiten 
beschränkt. Deutlich ist jeder Figur ihr Wert an die Stirn geschrieben, dennoch
	        
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