Volltext: Nr. 69 (69. 1920)

Jüdisch© Nachrichten 
Nr 69 
schönen Lauf auf, konnte aber gegen die gut trainier teil 
Wiener Läufer nicht aufkommen und g&b auf. Die 
meisten Preise errang — wie vorauszusehen war 
„Hakoah", so den Drei- und Vereins-Sechskampf und 
die Olympische Stafette. Makkabi X wurde Sieger m 
der 10 X 100-Meter-Stafette und in Einzelkonkurrenzeu. 
Am Abend verband ein lustiger Kommers alle Teil¬ 
nehmer, bei welcher Gelegenheit auch die Preisvertei¬ 
lung vorgenommen wurde. 
g § Feuilleton. □ jj 
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Tante Guttraud. 
(Schluß.) Von Heinrich Mosenthal. 
Unter der Uhr stand der schöne Spruch: 
„Eins- Manna Red' keins Mamn»s Red\ du sollst die Part 
hören beed". Ich weiß nicht, ob du dich noch daran 
erinnern kannst '? Gerade gegenüber, wo die seligen 
Großeltern wohnten. Und gerade an der Ecke war ein 
Erkertlirmchen, zu gleicher Erde auf den Gassenstein 
stoßend, von außen vergittert, von Innen mit einer dreh¬ 
baren Wand versehen, an die gefesselt der arme Sün¬ 
der mit entblößter Brust herausgeschoben ward, um den 
Schimpfwörtern der Menge und den Steinwürfen des 
Pöbels preisgegeben zu sein. Diese scheußliche Proze¬ 
dur, die das menschliche Gefühl empört und die tie¬ 
rischen Leidenschaften aufstachelt, hatte die fromme 
evangelische Regierung wieder eingeführt, nachdem die 
gottlosen Franzosen sie bei uns abgeschafft hatten. Und 
da sollte nun der ausgestellt werden, der, leider Gottes! 
zu unserer Familie gehörte, auf der kein Untäteichen 
eines Makels jemals gehaftet hatte. Den Tag vergess 
ich nie. Er war für die ganze Gemeinde ärger als 
Tischo-Vaf (Zerstörung Jerusalems). Die Läden der 
Juden blieben alle geschlossen; auf der Straße war kei¬ 
ner zu sehen; selbst di.e Kinder behielt man aus der 
Schule zu liause, damit ihnen die Gassenjungen kein 
Leid antäten. 
„Ich niuß dir sagen, Kind, daß ich mir feig und 
elend vorkam, zu Hause zu bleiben und an mich zu 
denken, w'> die arme Tante Guttraud in Kummer und 
Herzeleid vergehen mußte. Ist es ein gottgefälliges 
Werk, zu Sterbenden zu gehen, wie darf man da eine 
allein lassen, deren Seele eines hundertfältigen. Todes 
stirbt? Ich sagte es deinem Vater. „Tu', was du willst!" 
sagte er, „ich geb' schon auf die Kinder Obacht." Ich 
nahm mein Tuch und lief hinüber, ohne mich umzu¬ 
sehen, aber ich fand die Tür verschlossen und rüttelte 
vergebens. Die Nachbarin, die Schneiderin Engelbrecht, 
kam auf die Stiege und sagte mir, die Mädchen hätten 
sich von. innen eingeriegelt und die arme Madam sei 
fort. — Fort! fort! Wohin? „Weiß rriäns denn," sagte 
die Engelbrechten achselzuckend, ,,der Mensch in der 
Verzweiflung weiß nicht, was er tut. Herrje, die arme 
Frau dauert mich." Ich schlich davon mit noch schwe¬ 
rerem Herzen. Solltest du's glauben Kind, ich war im¬ 
stande, das, was die Frau gedacht, der Heiligen zuzu¬ 
trauen. Ja wohl! Sie hat sich was angetan'. Aber wie 
schämte ich mich, als ich erfuhr, was sie sich angetan 
hatte!" 
„Die Stunde war gekommen; eine unzählige Volks¬ 
menge füllte den Markt; die brutale Masse freute sich 
auf das brutale Schauspiel und johlte Schimpflieder auf 
die Juden. Man hatte Polizeidiener und Militär auf¬ 
gestellt und die nächsten Zugänge zum Rathaus abge¬ 
sperrt. Vom großen Fenster herab verlas ein Gerichts 
schöffe das Urteil, dem die Menge schallend zujubelte, 
und nun drehte sich die verhängnisvolle \V and und mit 
entblöster Brust, das Antlitz gesenkt, das der im Kerker 
verwilderte Bart noch mehr entstellte, ward der Un¬ 
glückliche sichtbar. Ein neues, noch wilderes Geheul. 
Schon bückten sich einzelne nach Kieselsteinen, die den 
Verbrecher treffen sollten, da — (alles, was ich dir er¬ 
zähle, war im' Wochenblättchen genau beschrieben), da 
öffnete sich die kleine Tür des Rathauses in der Fischer 
gasse und sie trat heraus, Tante Guttraud, in den von 
den Soldaten abgesperrten Raum, und statt hindurch 
zu gehen, blieb sie am Eckstein vor dem Pranger stehen, 
hob sich am Eisengitter mit der dürren, nackten Harn! 
empor und stand, frei und allen sichtbar, dicht neben 
dem Mann auf der Schandbühne, dem Manne, dem sie 
unter der „Chuppe" Treue geschworen hatte. So staue! 
sie stundenlang, und nicht mit der Verzweiflungsmienej 
wie man die Mutter unter dem Kreuz abgemalt sieht, 
nein, ruhig, als ob sich das von selbst verstünde, mit 
den Lippen nur leise zuckend, als ob sie innerlich bete, 
und die Augen auf ihn geheftet, der zu ihr hinabsah, 
während dicke Tränen in seinen Bart fielen, die er sich 
nicht abtrocknen konnte. 
„Das war, wie wenn ein Blitz, nein, wie wenn ein 
Lichtstrahl von Gott auf die Menge gefallen wäre. Die 
Schimpfworte und das Geheul waren verstummt. „Sem 
Weib! Sein Weib! Sein unschuldiges' Weib!" rief eine 
Stimmle der anderen zu, und so viele schlichen sich da 
' von, daß die Soldaten kein Gedränge mehr abzuwehren 
hatten. Der Pfarrer Matthias, der zum Abendsegen, in. 
die „Brüderkirche" gehen wollte und der das Vorge¬ 
fallene in' der Marktgasse erfuhr, trat nahe heran und 
zog den Hut ab. 
„Wie ein Lauffeuer war's durch die ganze Gemeinde 
geflogen und nach und nach war alles auf den Markt 
geströmt. Das Gefühl der Schande war aus allen Herzen 
gewichen und hatte denn des Stolzes Platz gemacht. Das 
Verbrechen war überall und zu allen Zeiten erhört; un¬ 
erhört war nur das Märtyrertum der ehelichen Treue. 
Das war ein stilles Bewundern, ein Kopf schütteln, ein 
Zunicken, ein Schluchzen der Rührung, und der alte 
Raf (Rabbiner) hob die Hände empor und rief laut; 
„Gott verzeih' mir's, so alt ich bin, weiß ich doch nicht« 
was man darüber für eine Bröche (Segensspruch) 
machen soll". 
„Ich glaube immer, es war auf des Bürgermeisters 
Schomburg Einschreiten, daß die Zeit abgekürzt wur<!f> 
und der Arme bald darauf den Blicken entschwand. 
Nun wollte, die Menge das Spalier durchbrechen: sie 
hätten vielleicht auf den Händen die Tante Guttraud 
nach Hause getragen, abet sie war durch dasselbe I ür- 
lein verschwunden., durch das sie eingetreten war. Man 
hatte sie auch vergebens besuchen wollen, obwohl der 
Parneß und die ganze Gemeinde jetzt auf einmal den 
Weg zu ihr fanden. Sie war bei ihm in seiner Zelle oder 
schloß sich mit den Ihrigen ein. Einmal fand ich sie> 
nach vielen fruchtlosen Versuchen, und es zog mir die 
Kniee herab, als wenn man Kaurirn fällt (der Fußfall 
am Versöhnungstag), aber sie sah mich mit strafenden 
Blicken an und sagte: „Betty, w!as tust du für eine 
Eweire (Sünde) ! Was würde deine Mutter, der Friede 
sei mit ihr! denken; sie war zehnmal besser als ich." 
„Als die Kurprinzessin auf die Welt kam, wurden 
viele begnadigt und vielen die Strafzeit abgekürzt. Da 
ist er auch herausgekommen. Aber in den feuchten
	        
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