Volltext: Nr. 65 (65. 1920)

Jüdische Nachrichten 
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sehen Parteien keinen sichtbaren Erfolg. Das unglück¬ 
selige Wahlrecht brachte es mit sich, daß im Parlamente 
kein Vertreter des jüdischen Volkes, das in der Republik 
Masaryksr als nationale Minorität bereits anerkannt ist, 
sitzt. Indem die Kandidaten desselben, auf deren Namen 
sich nicht weniger als 80.000 Stimmen vereinigt hatten, 
sich als Kongreß der jüdischen Parteien konstituierten, 
schufen sie das Forum, das außerhalb des Parlaments! die 
Stimmen der Juden zur Geltung bringen kann. 
Der XVI. Delegiertentag der deutscheil Zionisten 
trug wie alle Zusammenkünfte dieser Organisation den 
Stempel ihrer methodischen, wohlorgandsierten Arbeit. 
Auch dort sind Einigungsbestrebungen mit. den Gegnern 
des nationalen Gedankens im Interesse der gemeinsamen 
jüdischen Angelegenheiten rege. 
Die Tendenz aller dieser Konferenzen mid Beratun¬ 
gen tritt klar outage. Sie bedeuten mehr als theoretische 
Besprechungen; sie drücken den ernisten Willen zu eige¬ 
nem Leben aus, die Sache des jüdischen Volkes energisch 
und zielbewußt zu führen. Alle die anscheinend divergie¬ 
renden Kräfte streben zu einem gemeinsamen Zentrum : 
Die Erhaltung und Erneuerung des- jüdi¬ 
schen V olkes. Niemand wird sich der Erkenntnis ver¬ 
schließen können, woher diese kräftigen, gesunden Re¬ 
gungen ihren TTrsrpung nehmen. 
Der zionistische Delegiertentag in Deutsch¬ 
land. 
Der l(i. Delegierteutag der Zionistischen Ver¬ 
einigung für Deutschland, der am 20. Juni in Berlin 
eröffnet wurde, war von über 250 Delegierten aus alien 
Teilen Deutschlands beschickt und hatte auch nach seiner 
inneren Struktur zum ersten Male das Ansehen eines 
«Kongresses* Charakteristisch war die Gruppierung in 
Fraktionen, welche noch nie zuvor in dieser Schärfe, her¬ 
vorgetreten war. Die bedeutendsten Fraktionen waren, 
nach der Stärke angeführt, Hapoel Hazair, Misrachi, 
Jungzionisten, Freie zionistische Gruppe (Dr. Gotthold 
Weil) und Maximalsten (Trietsch.) Die Fraktionslosen 
haben sich zu einer eigenen Fraktion unter dem Namen 
„Zione Zioü" vereinigt. Die erste Sitzung des fünf 
Tage dauernden Delegiertentages wurde als feierliche 
Eröffnungssitzung Sonntag vor zahlreich erschienenen 
Güsten abgehalten. Nach "der Begrüßungsansprache des 
Vorsitzenden, Dr. Klee, in der er die Bedeutung des 
gegenwärtigen Zeitpunktes, insbesondere im Hinblick 
auf die Entscheidung von San Kemo, würdigte, begrüßte 
Prof. Dr. Warburg, namens des E. A. C. den Delegier¬ 
tentag, wobei er die besonderen Aufgaben des deutschen 
Zionismus betonte. Sodann wurde das Präsidium ge¬ 
wühlt, bestehend aIis .Dr. Klee als Vorsitzenden, Doktor 
Egon Rosenberg (Berlin), Dr. Victor (Hamburg), Her- v 
mann Struck (Berlin), Di^ Max Strauß (Berlin) als 
Stellvertreter sowie einer ATiizahl von Beisitzern aus allen 
Fraktionen». In seinem Rechenschaftsbericht berichtete 
Dr. Klee über die Arbeit des vergangenen Jahres.- Nach¬ 
dem \\ oll steine i; den Bericht des Nationalfonds gegeben 
hatte, hielt Richard Lichtheim sein Referat über die 
politische Lage im Zionismus. Er schilderte die Arbeit 
des Aktionskomitees, soweit ein Einblick möglich ist, 
und besprach einzelne Teilprobleme unter kritischer 
Stellungnahme zur bisherigen Arbeit. Julius Berger 
betonte die Notwendigkeit einer, das gesamte Volksleben 
ergreifenden realen Volksarbeit. Er forderte nicht nur 
entsprechende Institutionen zur Regelung der Immi¬ 
gration in Palästina, sondern auch Schaffung politischer 
Institutionen im Galuth, Fühlungnahme mit den Massen 
und Ausbildung gesehulter Kräfte für die Volksarbeit. 
Zu diesem Zweck fordert er die Einführung der zio¬ 
nistischen Dienstpflicht, die für junge Leute ein Jahr, 
für ältere, schon im Beruf stehende vier Wichen dauern 
soll. In der politischen Debatte übte Dr. Jakob Klatzkin 
an der Art der Aufnahme der zionistischen Erfolge im 
Volk Kritik und forderte eine stärkere Betonung der 
reinen Idee gegenüber den bedenklichen Erscheinungen 
von Demoralisation in unserem politischen Leben. Im 
Verlauf der Palästinadebatte erstattete Dr. Walter Moses 
das Referat über Berufsvorbereitung für Palästina, in 
welchem er eine Berufsberatung und Ausbildung, vor 
allem in drei Richtungen fordert; erstens für landwirt¬ 
schaftliche Arbeit, zweitens für den Lehrberuf und 
drittens für den Beamtenberuf einschließlich der Partei¬ 
beamten. Im der Debatte wurde vielfach eingewendet, 
daß bei der Berufsberatung der kaufmännische Beruf 
nicht genügend berücksichtigt werde. Weifter hielten 
Frl. Dr. Grete Pinner und Frau Nanny Margulies Refe¬ 
rate über Frauenarbeit in Palästina und Galuth. In die 
Delegation zur zionistischen Jahreskonferenz in London 
wurden gewählt: Blumenfeld, Lichtheim, Dr. Walter 
Moses, S. Schocken, Dr. Walter Steinitz, Davis Trietsch 
und als Vertreter des Hapoel Hazair Victor Chaim 
Arlosoroff. Das Referat von Kurt Blumenfeld über die 
Aufgaben der zionistischen Arbeit in Deutschland bil¬ 
dete den Höhenpunkt der Tagung. Blumenfeld unter¬ 
nahm es, ausgehend von dem Gegensatz zwischen un¬ 
tätiger Gesichtsbetrachtung und aktiv gestaltendem Ein¬ 
greifen, an den Einzelproblemen des jüdischen Lebens 
darzulegen, wie es Aufgabe des Zionismus, ist, das 
jüdische Leben auch entgegen sogenannten natür¬ 
lichen Entwicklungstendenzen in allen seinen Tei¬ 
len gestaltend zu bewältigen. Die Größe des natio¬ 
nalen Gedankens liegt darin, daß alles von außen ein¬ 
dringende Geistesgut der nationalen Existenz eingeord¬ 
net wird. Daher bedeutet auch die Differenzierung etwa 
nach dem Gesichtspunkt des Sozialismus nicht etwa eine 
(j berschreitung der nationalen Schranken, sondern ihre 
Erfüllung mit wirklichem Leben. Dies ist aber nur 
möglich, wenn der nationale Gedanke ohne Absehwächung 
und ohne Kompromiß vertreten wird. Mittwoch wurden 
die .Wahlen für das Präsidium der Z. V. f. D. vorge¬ 
nommen. Der Permanenzausschuß war nach tagelangen 
Beratungen zu keiner Einigung gelangt, da die Jugend 
und Hapoel Hazair als Vorsitzenden Blumenfeld kan¬ 
didierte, während die 'rechtsstehenden Fraktionen, an 
Dr. Klee festhielten. Nachdem im Plenum als dritte 
Kandidatur Felix Rosenblüth aufgestellt worden war, 
erklärte Blumenfeld, daß er zugunsten Rosenblüths zu- 
rücktrete. Es wurde hierauf unter größter Spannung 
in namentlicher Abstimmung die WTahI des Präsidenten 
vorgenommen. Rosenblüth wurde mit 126 gegen 105 
Stimmen bei einigen Stimmenthaltungen zum Vor¬ 
sitzenden gewählt. Füi ihn stimmten die sozialistischen 
und Jugend-Fraktionen sowie die meisten Fraktionslosen, 
für Klee Misrachi, Weil-Grüppe und Trietsch-Gruppe. 
Mit Rücksicht auf die geringe Majorität erklärte Rosen¬ 
blüth, die Wahl nicht anzunehmen und erbat eine Sitzung 
des Zentralkomitees und Permanenzaus sehusses. Nach 
mehrstündiger Unterbrechung der Sitzung wurde sodann 
mitgeteilt, daß sich die Parteien dahin geeignet haben, 
Rosenblüth und Klee als gleichberechtigte Vorsitzende 
ferner einen geschäftsführenden Ausschuß von zwölf 
-Mitgliedern zu wählen. 
Die Spezialreferate zur Arbeit in Deutschland wur¬ 
den von Moses Calvary über die Kulturarbeit, Dr. Viktor- 
Wandsbeck über Gemeindearbeit und Dr, Siegfried
	        
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