Volltext: Nr. 64 (64. 1920)

Nr. 64 
Jüdische Nachrichten 
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mir die Sache nicht vom Herzen und nicht von der Leber 
geladen habe. 
In den Wochen, seit, ich Ihnen nicht geschrieben 
habe, ist etwas anderes. Neues, viel Größeres in mir auf¬ 
geschossen, was mir jetzt wie ein Basaltberg vorkommt, 
vielleicht weil ich noch so erschüttert bin und das Ent¬ 
standene noch so fürchterlich glüht. 
Wochen der ungeheuerlichsten Produktions-Auf¬ 
regung, in der ich manchmal fürchtete, verrückt zu 
werden. 
Es sind vorläufig nur die Planskizzen — sie sind 
schon ein ganzes Buch. Wir werden, wenn wir im 
Sommer im Salzkammergut zusammentreffen, darüber 
reden. 
Dieses Werk ist jedenfalls für mich und mein 
ferneres Leben von der größten Bedeutung — vielleicht 
auch für andere Menschen. Denn, was mich annehmen 
läßt, daß ich etwas Wertvolles entworfen habe, ist die 
Tatsache, daß ich dabei keine Sekunde lang literatenhaft 
an mich gedacht habe, sondern immer an andere Men¬ 
schen, welche schwer leiden. 
Noch ein paar Tage Arbeit und die Sache ist so 
fertig, daß sie nicht mehr verloren gehen kann, auch 
wenn ich durch Umstände des Lebens an der minutiösen 
Ausführung verhindert werden sollte. 
Dann verlasse ich Paris auf einige T age, um mich 
zu erholen. Mein Urlaub ist das noch nicht; den trete 
ich erst Mitte oder Ende Juli an. 
Sie kennen das liebe Gedicht von Heyse, „An den 
Künstler", das ich oft zitierte. Da heißt es: 
. . . Bangend, er könnte über Nacht 
Hinfahren, ehe dieses Werk vollbracht. 
Das ist meine Stimmung. 
Ich habe den Stoß bisheriger Notizen im Komptoir 
d' Eskompte deponiert, in der Kasse Nr. 6, lach Nr. 2. 
Um zu offnen, muß man jeden der drei Knöpfe siebenmal 
nach rechts drücken. Jemand muß das wissen, falls ich 
hinfahre über Nacht". 
Das sind jetzt Sie. Komme ich Ihnen aufgeregt 
vor? Ich bin es nicht. Ich war nie in einer so glück¬ 
lichen, hohen Stimmung. Ich denke nicht ans Sterben, 
sondern an ein Leben voll männlicher Taten, das alles 
Niedere, Wüste, Verworrene, das je in mir gewesen! sein 
mag, auslöscht, aufhebt und alle mit mir versöhnt, sowie 
ich mich durch diese Arbeit mit allen versöhnt habe. 
Ihr Freund Herzl. 
Herzls Zustand in jener Zeit gemahnt fortwährend 
an vorhistorische Menschen, an Mythe uiid Legende. 
Verzückung, sogar Besessenheit wäre für diese seelische 
Verfassung keine unzutreffende Bezeichnung. Unter 
dem 16. Juni schrieb er in sein Tagebuch: 
16. Juni 1895. 
Ich habe in diesen Tagen öfters befürchtet, irrsinnig 
zu werden. So jagten die Gedankenzüge erschütternd 
durch meine Seele. — 
Ein ganzes Leben wird nicht ausreichen, alles aus¬ 
zuführen. Aber ich hinterlasse ein geistiges Vermächt¬ 
nis. Wem? Allen Menschen. 
Ich glaube, ich werde unter den größten Wohltätern 
der Menschheit genannt werden. — 
Oder ist diese Meinung schon der Größenwahn? Ich 
muß vor allem mich selbst beherrschen. 
Wie Kant sich aufschrieb: — An Johann darf nicht 
mehr gedacht werden,. — 
Mein Johann ist die Judenfrage. Ich muß sie rufen 
und wegschicken können. — 
Niemand dachte daran, das gelobte Land dort zu 
suchen, wo es ist — und doch liegt es so nahe. 
I)a ist es: in uns selbst! — 
Ich lüge niemanden etwas vor. Jeder kann sich 
überzeugen, daß ich die Wahrheit rede. Denn jedei 
nimmt ein Stück vom gelobten Lande in sich und mit sich 
hinüber. — . . . , 
Der in seinem Kopfe, der m seinen Händen und der 
Dritte in seinen Ersparnissen. Das gelobte Land ist dort, 
wohin wir gehen.. ^ , 
Ich glaube, für mich hat das Leben aufgehört und 
die Weltgeschichte begonnen. 
Bücher und Zeitschriften. 
Dr. So akin: Kleinsiedlung und Bewässerung. 
Die neue Siedlungsform für Palästina. Jüdischer 
Verlag, Berlin 1920. Die Einwohner-Aufnahmefähigkeit 
Palästinas hängt von der Dichtigkeit der Besiedlung ab, 
letztere ihrerseits von der Intensität der I roduktionsfor- 
men. Die Aufgabe, die unserer jüdischen Kolonisation 
gestellt wird, ist, Methoden ausfindig zu machen, welche 
die Intensität der Wirtschaftsweise erhöhen und gleich¬ 
zeitig die Kosten der Ansiedlung nach Möglichkeit ver¬ 
mindern. 
Dr. Soskin führt Resultate ani, zu denen man mit 
Hilfe der künstlichen Bewässerung in Ländern gelangt 
ist, die ihrem Klima nach viel ungünstiger dastehen als 
Palästina. Eine großartige künstliche Bewässerung in 
Verbindung mit dem hervorragenden Reichtum 1 alasti- 
nas an Sonnenlicht und Sonnenwärme wird imstande 
sein, einen großen Teil Palästinas in einen gewaltigen 
Obst- und Gemüsegarten zu verwandeln. Der Absatz der 
Produkte wird dabei durch eine genossenschaftliche Uxo- 
duzentenorganisation bewerkstelligt. Auch sonst soll für 
eine genossenschaftliche Zusammenfassung der Kolo¬ 
nisten und der Kolonien nach allen Richtungen hin ge¬ 
sorgt werden. Die Vorzüge, welche der Verfasser in 
seiner Siedlungsform sieht, sind folgende: 
1. Der Bodenbedarf eines jeden Kolonisten wird aul 
das geringste Maß, etwa auf ein halbes Hektar, herab¬ 
gemindert. .rj 
2. Der geringe Bodenbedarf führt zu einer bedeuten¬ 
den Herabminderung der Ansiedlungskosten. 
3. Die Zahl der Ansiedler kann auf ein Vielfaches 
der bis jetzt angenommenen Zahl gesteigert werden. 
4. Die Arbeiterfrage wTird eliminiert, da bei der 
Kleinheit der einzelnen Parzelle keine Verwendung frem¬ 
der Kräfte nötig ist. 
5. Die Uberführung der Juden aus den stadtischen 
Berufen in die Landwirtschaft wird erleichtert, da die 
gärtnerische Tätigkeit geringere Anforderungen an die 
physischen Leistungen! stellt und der geistig individuellen 
Veranlagung größeren Spielraum gewährt, 
Dr. Soskin bespricht in dieser Schrift auch die tech¬ 
nischen Einzelheiten der Anlegung einer Siedlung wie 
auch der einzuführenden Wirtschaftsweise. Er bringt 
auch dabei den Entwurf einer solchen Kolonie, die den 
Vorzug hat, auf einem relativ kleinen Räume (etwa 
800 ha) 500 Familien zu umfassen. Durch eine solche Be¬ 
völkerungsdichtigkeit werden die Kultus- und Gemeinde¬ 
kosten, die die Gemeindemitglieder selbst zu tragen 
haben, auf eine der Leistungsfähigkeit der Siedler ent¬ 
sprechende Höhe herabgemindert.
	        
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