Volltext: Nr. 6 (6. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 6 
gesunde, von Gemeingeist und Volksbewußtsein getragene 
Entwicklung, das sei unser Streben! 
Sollte man es für glaubhaft halten, daß sich diesem 
Streben, diesen klaren Zielen ernsthafte Widerstände ent¬ 
gegenstellen ? 
Sind denn unsere Wünsche und Forderungen so in den 
Wolken liegend, daß man uns als Phantasten und Schwär¬ 
mer belächelt? Aber nein; man belächelt uns gar nicht, 
man bekämpft uns, will — ob eingestandenermaßen oder 
nicht — die Jugend niederhalten. Oder will man uns 
nicht verstellen; aus Bequemlichkeit, aus Feigheit, aus 
mangelndem Selbstvertrauen? Auch das wollen wir nicht 
glauben; können nicht annehmen, daß der jüdischen Ju¬ 
gend in ihrem ernstesten Streben, ihrem Suchen nach in¬ 
nerem Ausgleich, bei ihrem Weg hinweg von Unfreiheit, 
Unbefriedigtheit und Unsicherheit zur Klarheit unci 
selbstsicheren Wollen und Schaffen, am ureigensten Herd 
ein Gegner bloß aus Mißverständnis entstehen kann. Fin 
Gegner nur deswegen, weil viele zu erdenschwer sind, sich 
mit aufschwingen zu können, zu unaufrichtig, dies sich 
a\ich einzugestehen. Wie unüberlegt, wie unberechtigt 
diese Gegnerschaft gegen d i e, die doch dereinst berufen 
sind, das uns allen heilige Erbe jüdischer Tradition und 
jüdischen Bewußtseins anzutreten. 
Weg mit der Vogel Strauß-Politik, mit der manche 
Kreise die Judenfrage abtun wollen; brennender, aber 
auch der Lösung näher war sie nie. Sie wegleugnen, hieße 
den Bestand des Judentums verneinen. Gelöst wird die 
Frage vielleicht in dieser Stunde am Kongreß zu 1 aris, 
von Männern, deren Andenken im jüdischen Volk ewig 
fortleben wird. Und trotzdem liegt in jedem von uns 
Juden ein Stück Judenfrage, ein Teil der Lösung. Und 
jede Gemeinde, sei sie noch so klein, arbeitet mit. Es 
geht um Sein oder Nichtsein des Judentums. 
Wir wollen einer Kultuswahl halber keine Kassan¬ 
drarufe ausstoßen, die Zeit und die sich überstürzenden 
Ereignisse sprechen überlaut genug. 
Wem die Zukunft des Judentums am Herzen liegt, 
der weiß, wo sein Platz ist: Bei der Jugend, der Zukunft 
des Volkes. 
Ihr alle, die Ihr in sturmbewegten Tagen das Juden¬ 
tum als lebendigen Teil eures Ichs bewahrt habt, zeigt, 
daß Ihr die dröhnende Sprache unseres Zeitalters versteht, 
daß Ihr in einer Welt revolutionärer Entwicklung nicht 
bei Veraltetem, Überlebtem, längst Überholtem stehen 
bleiben könnt, Ihr Linz er Juden, bleibt nicht auf 
halbem Wege, bei halber Arbeit stehen, habt Ihr euch 
die Idee der alle umspannenden Demok r a tie restlos 
zu eigen gemacht, so tut es ebenso mannhaft und restlos 
mit der Idee der R enaissanco des Judentums. 
Wenn Ihr am 6. April zur jüdischen Wahlurne 
schreitet, so beweist euren Glauben an eine jüdische Zu¬ 
kunft, indem Ihr Idee und Programm der Jungjuden 
zum Siege verhelft, indem Ihr geschlossen und einstimmig 
die Kandidaten der jungjüdischen Partei wählt. 
Die Frau in der Kultusstube. 
In der konstituierenden Nationalversammlung sitzen 
8 Frauen, in den verschiedenen Landesversammlungen 
und Gemeindevertretungen ebenfalls mehr oder weniger 
Vertreterinnen der verschiedenen Parteien. Nun hat 
auch die Linzer Kultusgemeinde als erste in Deutschöster¬ 
reich das passive Frauenwahlrecht eingeführt. Die Frage 
ist daher nicht müßig, welche Aufgaben der Frau spe¬ 
ziell in dieser den oben angeführten Körperschaften nicht 
vergleichbaren Korporation gestellt werden. 
Findet die Frau in der Kultusstube ein für ihre 
Eigenart entsprechendes Arbeitsgebiet oder ist es nicht 
besser, sie verläßt ihren Platz am häuslichen Herd erst 
gar nicht, wohin sie nach Anschauung eines Teiles des 
stärkeren Geschlechtes vom Schicksal gestellt wurde und 
wo sie demnach zu verbleiben hätte ? In Wahrheit ver¬ 
läßt die Frau den häuslichen Herd nicht, auch wenn 
sie sich um öffentliche Angelegenheiten kümmert. Der 
Fortschritt und unsere heutige gesellschaftliche Lage er¬ 
fordern es, daß die Frauen ihre ureigensten Interessen 
auch selbst vertreten. Die Aufgaben einer Kultus¬ 
gemeinde liegen im allgemeinen auf dem Gebiete der V er- 
waltung, Erziehung und sozialen Fürsorge. Die beiden 
letzteren sind derart, daß eine Frau nicht allein mitredeii 
kann, sondern daß ihre Tätigkeit da oft schmerzlich ver¬ 
mißt worden ist. 
Die Frau, die heute schon zum größten Teil im Er¬ 
werbsleben steht und dort einen schweren Kampf zu 
bestehen hat, auf die alle Lasten, Entbehrungen Opfer 
und Zerstörungen dieses Krieges ganz unmittelbar ein¬ 
gewirkt haben, hat nicht allein ihre soziale und politische 
Reife bewiesen, sie müß auch den sozialen Pflichten Ge¬ 
nüge tun, die ihr aus ihren neuen politischen Rechten er¬ 
wachsen, das heißt, sie muß unmittelbar an der Lösung- 
aller großen, die Menschheit bewegenden Probleme mit¬ 
arbeiten. Auch an der Lösung der Aufgaben, die die 
ethische Gemeinschaft — Kultusgemeinde genannt — zu 
bewältigen haben wird. Dreierlei sind diese Aufgaben 
und dreifach muß die Mitarbeit der Frau sein: auf r e 1 i- 
g i ö s - s i 111 i c h e m, auf p o 1 i t i s c h e m und endlich 
auf sozial em Gebiete. 
Unsere Jugend zu einer wahren, inneren Religiosität- 
zu erziehen, dazu bedarf es der engsten Zusammenarbeit 
von Schule und Haus, Lehrer und Eltern. Nicht zu eng¬ 
herzigen, bigotten Zeloten wollen wir unsere Kinder er¬ 
ziehen ! Frei nach seinem Ebenbild schuf Gott den Men¬ 
schen; und frei, rechtschaffen, charakterfest, wahrheits- 
und gerechtigkeitsliebend sollen unsere Kinder werden, 
in einer Atmosphäre wahrer Religiosität, nicht dogmati¬ 
scher Intoleranz. Wir erziehen damit der Menschheit 
Charaktere, dem Judentum echte, treue Söhne und I öch- 
ter, denen das Judentum keine Sache der Pietät, sondern 
Lebensinhalt und Weltanschauung ist. 
Wie in religiösen Dingen die Frau die beste Mitt¬ 
lerin zur Jugend sein kann, so in politische]! Dingen 
zur Frau. Interesse für Demokratie, Nationalismus, für 
geistige Strömungen unseres Jahrhunderts muß bei vielen 
Frauen erst geweckt werden, bei manchen viele falsche 
Meinungen, manches Vorurteil hinweggeräumt werden, 
wer könnte das alles wirksamer als die Frau, die in den 
verschiedenen Körperschaften mitarbeitet? Durch frucht¬ 
bringende aktive Mitarbeit erst kann die Frau zeigen, 
daß die vollständige Gleichberechtigung, die ihr in den 
Novembertagen zuteil wurde, gerechtfertigt war.
	        
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