Volltext: Nr. 46 (46. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 46 
sie, und darin gleichen sie, die es ja selbst im Grunde 
nicht sind, allen Konvertiten, drauflos, ohne Rücksicht, 
ohne Hemmungen. Und werden die opferfreudigsten, 
hingebungsvollsten Vorkämpfer des jüdischen Re¬ 
naissancegedankens. 
Eigentlich ist das alles ß&nz selbstverständlich. 
Aufgewachsen in einem Milieu, da$; nicht jüdisch 
sein will, noch christlich-arisch sein kann oder darf, ent¬ 
behren sie alles, was das jüdische Milieu ihnen geben 
könnte und tauschen in ihrer neuen Umwelt doch nichts 
ein, was» Ersatz sein könnte. Die ineisten von ihnen 
gehen unter, sang- und klanglos im Sumpf des ödesten 
Genußlebens, bilden mit den noch Juden gebliebenen 
gleich Farblosen und einer v schmalen Schicht der rein- 
arischen Jeunesse doree das Stammpublikum .von Bar 
und Kabarett. Das ist das Los der meisten. Verschafft, 
einer sich aber Eingang in den kleitfen konservativen 
Kreis bedeutender Deutscher, so verdankt et* dies nicht 
dem Taufwasser, sondern eben nur der Tatsache, daß 
es Qualitäten, die potentiell vorhanden waren J nicht er¬ 
säufen konnte. 
Einige Wenige aber, es sind nicht immer die Her¬ 
vorragendsten, kommen zurück. Und das Motiv ? Fragt 
man einen Getauften, was ihn zu diesem Schritt be¬ 
wogen hat, so wird er mit einem Wortschwall tausend 
Gründe angeben können, alle von dem Gewicht, wie 
Zukunft, Existenz, Kinder. Fragst du aber einen von 
den Jungen — denn bezeichnenderweise sind es nur 
Jungens und Mädels — die, stets ihren Eltern sehr zum 
Trotz, lieber das ungewisse, aber inhaltsvolle Los eines 
jüdischen Vorkämpfers wählten, als daß sie sich wider¬ 
standslos dem Sumpfe anheim gaben, dann werden dich 
leuchtende Augen stolz und offen anlachen, die Tatsache 
aber spricht bessere als schön gesetzte Worte. 
Beiße, leidenschaftliche Jugend ist es, die zu uns 
stößt, ob sich jeder einzelne bewähren wird, wer kann 
es- sagen! Von wem kann man es sagen, darauf kommt 
es aber ificht an, denn nicht in schreienden Taten, son- 
dern nur in leuchtender, erhabener Idee liegt das wirk¬ 
lich Werbende, das wirklich Schaffende. Auf dem Weg 
zum Zion der Herfen fanden wir liebe, wertvolle Ge¬ 
nossen, seien wir dessen froh. —ff. 
Antisemitismus und Kultur. 
Diesen interessanten Aufsatz ent¬ 
nehmen wir den ,,Münchener Neuesteil 
Nach richten Er stammt von Major Franz 
Karl E n d r e s, der, eine seltene Erschei¬ 
nung bei einem deutschen Offizier, als 
Schriftsteller volles Verständnis für die 
Judenfrage bewiesen und auch der zio¬ 
nistischen Literatur schon wertvolle Bei¬ 
träge geliefert hat. 
Über Geschmack läßt sich nicht streifen. Insofern 
also der Antisemitismus eine Geschmacksfrage ist, steht 
er außerhalb jeder Kritik. Auch der politische Kampf 
gegen tatsächliche oder eingebildete Gefahren, die das 
Judentum für uns in sich birgt, läßt sieh verstehen, 
wie jeder Kampf um oder gegen eine Idee. Wenn aber 
die durch den persönlichen Geschmack diktierte Ab- 
ncigur , oder die infolge irgend eines religiösen, poli¬ 
tischen oder Rassebekenntnisse« vorhandene Gegner¬ 
schaft Föhnen annehmen, die den Gesetzen der Kultur 
und deren höchster Erfüllung, der Humanität, ins Ge¬ 
sicht schlagen, so erwächst jedem einzelnen, der sich als 
im Dienst der Humanität befindlich bekennt, die unbe¬ 
dingte Pflicht, hiergegen Stellung zu nehmen. 
Wenn in Deutschland eine Judenhetze möglich ist, 
die darauf abzielt, in den kritiklosen Massen Pogrom¬ 
stimmung zu erwecken, wenn der Haß gegen den Juden 
soweit geht, wie das in Münchener Gymnasien der Fall 
ist, daß judenhetzerische Flugblätter in den Kreisen der 
Kinder verteilt werden und so die Seele des Kindes 
systematisch mit dem Gift des I lasses .infiziert wird, 
so ist das, man mag zur Judenfrage stehen wie man 
will, eine Schande für das deutsche Volk. 
Wer wirklich, wie der Schreiber dieser Zeilen, 
Judentum kennt, wird feststellen müssen, daß da im 
Judentum ebenso wie in den christlichen Völkern ein 
Kampf des widerlichsten .Materialismus mit dem edelsten 
Idealismus sich abspielt. Der blinde Judenhasser macht 
bei der Beurteilung des Judentums denselben Fehler, 
den beispielsweise der Feind des Militarismus gemacht 
hat, indem er den Simplieissimusleutnant als den Ver¬ 
treter des deutschen Heeres ansprach, denselben Fehler, 
den der kulturkämpferische- Heißsporn gemacht hat, der 
in irgend einem Hetzkaplan die katholische Kirche ver¬ 
körpert sah. Es ist die alte Lehre von den falschen Ver¬ 
allgemeinerungen, denen die Anschauungen ganzer Zeit¬ 
epochen zum Opfer fallen können, Die guten Elemente 
des Judentums weisen mit Entrüstung den jüdischeitf 
Wucherer, Schieber und Kriegsgewinner von sich, eben¬ 
so wie die guten christlichen Kreise das mit christlichen 
Vertretern dieser verachtungswürdigen Erwerbszwedge 
tun. Auch im Jüdentum, genau so wie bei uns, ist die 
Erkenntnis vorhanden, aaß der Materialismus durch 
einen neuen Idealismus überwunefen werden muß. Der 
jüdische Materialismus, der sich in Händler- und 
Krämergeist offenbart, ist nicht die Ursache des deut¬ 
schen Materialismus, unter dem wir leiden, sondern mit 
eine seiner Wirkungen. Daß die Bekämpfung des 
Materialismus in einem Volk wie dem jüdischen, das seit 
Jahrhunderten mit brutaler Gewalt in die Bahnen des 
Erwerbslebens hineingepreßt wurde, an und für sich 
einen guten Boden findet, darf nicht wundernehmen. 
Doch gilt hier ein alter Erfahrungssatz aus'der jüdischen 
Geschichte: . j 
Der Jude ist das Bild seines Wirtsvolkes. Man 
beachte die Stellung und Haltung des englischen oder 
amerikanischen Juden im Vergleich zum russischen. In 
beiden Völkern ist der Jude „Jude", und was er in 
beiden Völkern geworden ist, ist nicht die Wirkung 
etwa des Klimas, sondern der Behandlung, die der Judo 
durch sein Wirtsvolk im Laufe der Jahrhunderte er¬ 
fahren hat. , , ! 
Es kann dieser Frage im Rahmen eines kurzen 
Zeitungsartikels nicht mit der wünschenswerten Deut¬ 
lichkeit nähergetreten werden. Auch das Problem dee 
Ostjudentums und das Problem der Lösung der ganzen 
Angelegenheit durch Assimilation oder , den natio¬ 
nalistisch-jüdischen Gedanken des Zionismus können 
wir hier nicht berühren. Es möge der reine Hinweis 
genügen. 
Das eine aber muß gesagt werden, daß wir das 
zweifellos große Problem der Juden frage in Deutsch¬ 
land niemals mit den Methoden des Hasses lösen werden 
können. Diese Methode würde uns der gerechten Ver¬ 
achtung der ganzen Welt aussetzen. Wir, die wir uns 
heute mit Recht über die Armenierverfolgungen der 
Türken aufregen, müssen uns klar darüber werden, daß 
diese Aufregung einem Kulturgefühl in uns entspricht. 
Solche Gefühle sind aber wertlose Tändelei, wenn sie 
nicht zur Richtschnur eigenen Handelns gemacht wer¬ 
den. Der Christ und der deutsche. Kulturmensch kann
	        
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