Volltext: Nr. 40 (40. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 40 
gesetzt und mit ihr das Bestreben, für die Juden als 
Nation im S t a a t e Rechte zu erlangen. Es ist be¬ 
greiflich, daß dieses Bestreben, welches zu einer zwei¬ 
tausend] ahrigen Gewohnheit im Widerspruche steht, in 
der Judenheit selbst vielen Einwänden begegnen und auf 
starke Widerstände stoßen mußte. 
Der erste'Einwand richtete sich dahin, daß die 
Juden k. ein Vol k in ehr sin d, sondern eine bloße 
(t 1 a u b e 11 s g e m e i n s c h a f t. Der jüdische Natio¬ 
nalismus ist daher sinnlos, utopistiäch und auch gefähr¬ 
lich, weil er den fast ganz vollzogenen Verfalls- und Auf¬ 
lösungsprozeß in seiner letzten Phase stört. Dieser Ein¬ 
wand wurde anfangs sehr stark betont, er ist heute nahe- 
7Ai verstummt. Er steht zur Wirklichkeit in zu krassem 
Widerspruche. Der Traum von der Auflösung, von der 
Judenassimilation ist ausgeträumt. Die Judenschaft ist 
ein scharf umrissen es Gebilde in der Gesellschaft. Die 
Zahl der jüdischen Individuen, welche in der Umgebung 
wirklich aufgegangen sind, ist verschwindend klein. Die 
Völker lehnen die jüdische Assimilation ab und betrachten 
und behandeln die Juden als eigenes Volk. Nicht allein 
die reaktionären und antisemitischen Kreise huldigen 
dieser Auffassung, wie dies von jüdisch-assimilatorischer 
Seite den Nationaljuden entgegengehalten wird. Die fort¬ 
geschrittensten, den Juden durchaus gut gesinnten Ele¬ 
mente vertreten heute bereits diesen Standpunkt. So hat 
beispielsweise die während des Kriegs in Stockholm abge¬ 
haltene internationale Sozialistenkonferenz die Anerken¬ 
nung der Juden als Nation beschlossen. Ebenso die im 
Mai 1919 abgehaltene internationale Sozialistenkonferenz 
in Amsterdam. Die V ertreter aller Länder haben dafür 
gestimmt, einzig und allein der Vertreter der deutsch- 
österreichischen Sozialdemokratie dagegen. Diese eine 
Gegenstimme kann aber überhaupt nicht den Gegenstand 
ernster Schätzung bilden, weil die Deutschösterreicher 
durch einen Assimilationsjuden) den getauften Führer 
Viktor Adlera vertreten waren. 
Die überwiegende Majorität der Juden fühlt völ¬ 
kisch. Die ganze junge und die'mittlere Generation be¬ 
jahen ihr Volkstum stürmisch und den Ostjuden ist es 
nie eingefallen, ihr jüdisches Volkstum zu verneinen, 
wenn sie auch nicht allerorten dahin gelangt sind, es 
politisch zu betätigen. Neues nationales Leben und 
Streben ist überall erwacht und angesichts solcher Er¬ 
scheinungen nimmt sich der Einwand, daß die Juden nur 
eine G 1 a übe n sgemeinschaft bilden, denn doch 
zu kläglich aus. Umso kläglicher, als die alleinige Ge¬ 
meinsamkeit des „mosaischen Bekenntnisses" gerade von 
denjenigen jüdischen Elementen ins Treffen geführt wird, 
welche selbst völlig irreligiös und traditions- 
1 o s sind, welche ihr längst abgelegtes und vergessenes 
Bekenntnis erst jetzt wieder aufleben lassen. Nur des¬ 
halb, weil es ihnen als geeignete Basis für die Be¬ 
kämpfung der nationalen Bestrebungen scheint. Es ist 
im Grunde höchst ergötzlich, wenn assimilatorische 
I ührer, welche vom mosaischen Brauche weiter entfernt 
sind als der Papst, auch ihre Söhne und Töchter be¬ 
denkenlos zur Taufe führen, urplötzlich von dem sie 
einigenden Bande des religiösen Empfindens und Be¬ 
kennens sprechen. Diese sonderbaren Glaubenseiferer 
und Traditionsverfechter suchen ihren längst verworfenen 
und in den Staub getretenen Glauben wieder hervor, nicht 
um ihn hochzuhalten, sondern um ihn den fatalen, vor¬ 
wärtsstrebenden Jüdischnationalen als Fallstrick zwi¬ 
schen die Beine zu schleudern. 
Damit konnten die'Gegner in der ersten Zeit ihr 
Auslangen finden. Der Posten ist verloren und sie haben 
einen anderen bezogen. Sie legen nicht mehr das Schwer¬ 
gewicht auf die Behauptung, daß es kein jüdisches Volk 
gibt, sondern weisen auf die Gefahren hin, welche herauf¬ 
beschworen würden, wenn die Juden sich als eigenes 
Volk bekennen und als solches behandelt werden. Ein¬ 
zelne Juden und ganze jüdische Gruppen würden aus 
ihren heutigen Stellungen verdrängt werden und schwe¬ 
ren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schaden er¬ 
leiden. 
Es soll noch darüber gesprochen werden, ob und wio 
weit diese Behauptung zutrifft. Aber angenommen, daß 
einzelne Existenzen beeinträchtigt und gewisse gesell¬ 
schaftliche Stellungen geschwächt würden: kann das 
Grund genug sein, um auf die Zusammenfassung und 
Erhebung des jüdischen Volkes zu verzichten? Die 
kleinste Reform auf demi untergeordnetsten Gebiete er¬ 
fordert Opfer und jeder findet das begreiflich, aber auf 
die Gesundung des unglücklichen, alten, verachteten und 
bedrohtem Judenvolkes soll verzichtet werden, weil sie 
auch Opfer kosten könnte. Hinter dieser scheinheiligen 
Besorgnis um jedes Härchen auf dem Kopfe jedes jüdi¬ 
schen Bruders und jede Banknote in seinem Beutel birgt 
sich die schnöde Selbstsucht aller jener, die aus der un¬ 
glückseligen Zwitterstellung der Juden Vorteil ziehen 
oder die da glauben, eine radikale Klärung des Verhält¬ 
nisses zwischen Juden und Nichtjuden könnte ihr gesell¬ 
schaftliches Behagen und ihre satte Rühe um ein Gerin¬ 
ges beeinträchtigen. 
Dabei nehmen dieselben Leute keinen Anstand, mit 
Opfern zu prahlen und Opfer notwendig und selbstver- j 
ländlich zu finden, wenn andere sie gebracht 
haben oder bringen m ü s s e n. Sie versagen sich 
es nicht, ihren Kindern rühmend von jenen alten Juden 
zu erzählen, welche ihre nackte Brust •ins Römerschwert 
geworfen haben, um Jerusalem zu schützen, welche sieh j 
und ihre Kinder auf den Scheiterhaufen der Inquisition 
rösten ließen, um vom Judentume nicht lassen zu müssen. 
Sie selber sind bereit, ihr Judentum zu verleugnen, um 
in einer judenreinen Sommerfrische unterzukommen, und ! 
halten erschrocken das Maul, wenn während eines Ge¬ 
spräches über jüdische Sachen, das christliehe Dienst¬ 
mädchen ins Zimmer kommt. 
Sie linden es auch selbstverständlich, daß alle an¬ 
deren Völker um ihrer Freiheit willen kämpfen und lei¬ 
den, daß I ranzosen, Deutsche, Russen sich auf den Bar¬ 
rikaden haben niedersäbeln lassen, um ihren geknechteten 
Brüdern zu helfen. Sie finden es auch selbstverständlich, 
daß Juden, andere natürlich, dabei mittun. Aber füre 
Judentum dürfen von keinem Juden Opfer verlangt wer* 
den. I ür sein Volk, #für seine Brüder braucht das jü¬ 
dische Einzelindividuum nichts, gar nichts preisgeben. 
Und das Judenvolk soll verurteilt sein, auf jede Stärkung 
und Hebung verzichten zu müssen, wenn auch nur einem 
seiner schlechtesten Söhne dadurch das geringste Opfer 
auferlegt würde. Viele hunderttausend sollen weiterhin 
iji Rechtlosigkeit und stetiger, lähmender Bedrohtheit, 
in geistiger, wirtschaftlicher und politischer Dürftigkeit 
verkümmern und verkommen, weil einige hundert halb 
oder ganz abgefallene, an der Sonnenseite fremder Gunst 
stehende Juden vielleicht aus ihrem gesellschaftlichen 
Gleichgewicht gebracht werden könnten! 
Die Entwicklung ist glücklich so weit fortgeschrit¬ 
ten, daß diese Verfechter der egoistischen Behaglichkeit 
und Trägheit keine hochzuschätzenden Gegner sind. Die 
nationale Idee hat den jüdischen Organismus befruchtet 
und es ist eine Generation herangewachsen, welche zu 
opfern versteht und das Opfer begreift.
	        
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