Volltext: Nr. 38 (38. 1919)

Nr. 38 
Jüdische Nachrichten 
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Wenn aber alle Produktionsmittel in die Hände des 
Staates, das heißt der Gesamtheit gelegt werden, dann 
muß auch das wichtigste Produktionsmittel, die mensch¬ 
liche Arbeitskraft organisiert werden, will man nicht 
statt zur Sozialisierung zum Staatskapitalismus kommen. 
►Schaffung der allgemeinen Arbeitspiiicht auf genossen¬ 
schaftlicher Grundlage auf der einen Seite und auf der 
anderen Gewährung des Existenzminimums (im Sinne 
des Poppersehen Systems) oder Sicherung des quoten- 
mäßigen, «durch die Arbeitsleistung bedingten Anteils an 
der Produktion. Minimum (das für alle gleich ist und 
stets Naturaleinkoinmen bedeutet) und Quote (nach Art 
und Menge der Arbeit verschieden) sind im Grunde ge¬ 
nommen dasselbe und beinhalten, daß die Einzelprozesse 
der Produktion zu einer Gesamtsumme vereint werden, 
der die Gesamtsumme aller Einzelkonsumtionen gleich 
ist, wobei der Aufteiiungsschlüssel Arbeit oder Arbeits¬ 
leistung heißt. Niemand wird aber aus unfreiwilliger 
Arbeitslosigkeit, (als solche kommen bloß Krankheit und 
ähnliches, wie Streiks, Krisen in Betracht) hungern, 
keiner darf sich aber grundlosem Nichtstun hingeben. 
Die Regelung von Produktion und Konsum nach 
dem Prinzip der allgemeinen Arbeitspflicht und des 
Existenzminimums hätten in Erez Israel unmittelbar 
wertvolle Folgen. 
Das Problem der Nationalisierung des .Bodens ist 
im allgemeinen ein Problem der Berufeumschichtung. 
Heute ziehen viele Hunderttausende Juden, besonders 
im Osten, eine kümmerliche, unsichere und sorgenvolle 
Existenz als „Selbständiger" (Luftmensch, wie Nordau 
diese unserem Volke eigene Form des Proletariers nennt) 
jeder Bindung an eine soziale Arbeit vor. Nur wenn 
wir — wie dies im System der Nährarmee der Fall ist — 
dem Arbeitenden die Gewißheit geben, später einmal un¬ 
abhängig, „frei", wie der Ausdruck fälschlich lautet, zu 
sein, wird es möglich werden, ohne ökonomischen Druck, 
wie dies im kapitalistischen Europa möglich war, den 
jüdischen Menschen zur Arbeit zu bringen. Der zehn 
oder fünfzehn Jahre in der Landwirtschaft Arbeitende 
wird schließlich auf nationalem Boden als Pächter (Gärt¬ 
ner, Züchter) angesiedelt, währhend seine Kinder, der 
allgemeinen Arbeitspflicht folgend, nicht die kleine 
Pachtung übernehmen, sondern ihrerseits in die Nähr¬ 
armee eintreten. „Pensionierte" Industriearbeiter wer¬ 
den, gestützt auf ihre Leibrente, Gewerbetreibende (Hand¬ 
werker), da die Dienstpflicht nie in gewerblichen Klein¬ 
betrieben, sondern stets in großen Arbeitsstätten absol¬ 
viert wird. Die ganze Skala der Kleingewerbetreibenden, 
vom Flickschuster bis zum Feinmechaniker, wird so nicht 
zum Feld der wütendsten Konkurrenz, sondern sinkt 
mehr auf das Niveau einer Nebenbeschäftigung herab. 
Dieser „neue" Mitteistand (eigentlich lauter Pensionisten 
mit Nebenbeschäftigung) werden neben der Arbeiter¬ 
schaft den verläßlichen, nationalen Grundstock bilden. 
Die nationalen Betriebe werden, einer billigen Produk¬ 
tion zuliebe, keine fremden Arbeitskräfte aufnehmen, 
sondern ihre eigenen Rekruten verwenden, die Klein¬ 
betriebe werden nicht in der Lage sein, fremde Arbeits¬ 
kraft zu verwenden. 
Durch den Aufbau der Produktion auf dem Prinzipe 
der Selbstgenügsamkeit wird der Umlauf des Geldes als 
Produktionsmittel (in Form von Kapital) oder als Ware 
unmöglich, es wird wieder lediglich zum Wertmesser und 
Tauschmittel. Es verliert die ihm im kapitalistischen 
Produktionsprozeß eigentümliche Fähigkeit, als Güter¬ 
akkumulator oder -reservoir zu dienen. Der Nährpflicht¬ 
staat braucht keine Golddeckung, da im Inlandverkehr 
das Geld bloß als kondentioneller Wertmesser (ähnlich 
wie jetzt in Zentraleuropa) verwendet wird, dem Ausland 
gegenüber aber kein Geldverkehr, sondern — dem Cha¬ 
rakter der Bedarfsproduktion entsprechend — Kompen¬ 
sationsverkehr eintri tt. 
Einschneidender noch als die rein nationalen und 
wirtschaftlichen Vorteile sind die auf finanziellem, poli¬ 
tischem und kulturellem Gebiete. (Fortsetzung folgt.) 
S § Aus der jüdischen Welt. § g 
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Die Zahl der Juden wird nach einer Statistik für 
Ende 1919 auf 15,530.000 geschätzt. Diese verteilen sich 
auf folgende Länder (Zahlen in Millionen) : 
Polen 3,3 Großarabien .... 0,13 
Ukraine 3,3 Griechenland . . . 0,12 
Vereinigte Staaten . 3,1 Niederlande .... 0,11 
Rußland u. Sibirien . 0,9 Marokko 0,11 
Rumänien .... 0,65 Argentinien .... 0,1 
Deutschland .... 0,54 Kanada 0,1 
Tschechoslowakien . 0,45 Türkei 0,1 
Ungarn 0,45 Palästina 0,1 
Litauen 0,35 Sonstiges Europa . . 0,2 
Großbritannien . . . 0,3 ,, Amerika . 0,03 
Deutschösterreich . . 0,3 ,, Asien . . 0,1 
Jugoslawien .... 0,2 . „ Afrika . . 0,17 
Frankreich .... 0,15 Australien .... 0,02 
Algier u. Tunis . . .0,15 
In Deutschland ist nunmehr durch1 einen Erlaß des 
Ministers des Innern das Wahlrecht für die jüdischen 
Gemeinden demokratisiert worden, so daß unter anderen 
a>ich die Kriegsteilnehmer, die man ursprünglich vom 
Wahlrecht ausschließen wollte, nunmehr wahlberech¬ 
tigt sind. 
Großrabbiner Josef Engel aus Krakau ist im Alter 
von 61 Jahren nach kurzem Leiden verschieden. Mit ihm 
verliert die jüdische Gelehrtenwelt einen ihrer bedeutend¬ 
sten Vertreter. 
Die englische IJntersuchungskominission, an deren 
Spitze Sir Stuart Samuel steht, ist in Warschau einge¬ 
troffen. Die Aufnahme, die die Kommission in der pol¬ 
nischen Presse findet, ist begreiflicherweise außerordent¬ 
lich absprechend. 
Seit der Okkupation Palästinas durch England sind 
fast 3000 geflüchtete Juden nach Jerusalem' zurück¬ 
gekehrt. 
Hebräische Stenographie. Lehrer I homas hat ein 
Stenographiesystem der hebräischen Sprache ausge¬ 
arbeitet und soeben fertiggestellt. Er beginnt nunmehr 
mit der Verbreitung desselben und der Aufnahme von 
Schülern. 
flir suchen überall, SPSffS. WS s£u'9' 
tüchtige 
Inhossanien m" ' -Ahpuisiisire 
557 gegen hohe Provision 
Anträge an die Administration der „Jüdischen Nachrichten" 
Linz a. d. D.
	        
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