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Jüdische Nachrichten
Nr. 38
triebenen Eisenbahnbediensteten mit allen Mitteln zu
sorgendentspann -sich eine längere heftige Debatte, die
diesen Akt der Kollegialität zu einem der Bestialität
herabwürdigte. Wenn uns nicht fortwährend erzählt
würde, welche unüberwindliche Gewalten die traurigen
Zustände unserer Bahnen verschulden, könnte man fast
gewissen geistigen Faktoren diesen Einfluß zumessen. Es
handelte sich nämlich auch um Beamte „semitischer Her¬
kunft". (Wir zitieren die „Linzer Tages-Post".) „Es
stellte sich heraus, daß keine der alpenländischen Direk¬
tionen Neigung verspürt, Juden in ihrem Schöße aufzu¬
nehmen; besonders hartnäckigen Widerstand leisteten
die Beamten Vertreter Tirols, die mit den übrigen Eisen¬
bahner-Organisationen ihres Direktionsbezirkes bereits
einen Pakt geschlossen hatten, keinen Juden, nicht einmirl
einen getauften, in ihren Direktionsbezirk zu über¬
nehmen. Ähnliche strikte Erklärungen gaben auch die
Vertreter der Direktion Villach ab.a
Also nicht einmal mit diesen notleidenden Beamten
hungern darf man, wenn man Jude ist, und nicht einmal
die Taufe gibt das Recht hinzu. Der Fall ist charakte¬
ristisch und mag denen zu denken geben, die das Bekennt¬
nis zur jüdischen Nation für so gefährlich halten. In
diesem Staate, wo das Recht der hsft, der den Mund ent¬
sprechend weit, aufreißt, indem er sich organisiert und
einen „Rat" , in die Wtelt setzt und auf eigene Faust in
seinem Bereich regiert, schert sich kein Teufel darum,
wenn der Lud auch zehnmal sich nicht zur jüdischen
Nation bekennt. Nur wir Juden sollen uns nicht organi¬
sieren dürfen ?
Der soziale Aufbau Palästinas.
Von Friedrich Franck.
(Fortsetzung.)
III.
Allgemeine Arbeitspflicht und Existenzminimum.
Palästina ist ein kleines und ein keineswegs beson¬
ders fruchtbares und reiches Land. Die Frage, wie die
vielen Millionen Juden, denen es Heimstätte und Schutz
werden soll, ernährt werden können, ist ein schwieriges
Problem, von dessen befriedigender Lösung unendlich
viel, das heißt die ganze Palästina- und Galuthbewegung,
abhängt. Ob der Boden ergiebig genug sein wird, bei den
rationellsten Methoden einige Millionen Menschen zu
ernähren oder ob eine den lokalen und Weltverkehrs¬
verhältnissen entsprechende Industrie eine gewaltige
Einfuhr an Rohstoffen und Lebensmitteln ermöglichen
wird, können wir heute noch nicht auch nur annähernd
voraussagen. Eines jedoch steht bereits fest, daß das
arme Land nicht in der Lage sein wird, arbeitslose Ein¬
kommen zu gewähren, daß es nicht angängig sein wird,
eine große Gruppe von Menschen ohne jeden Anteil an
der Güterproduktion zu lassen.
Das Chalukka-Judentum, eine in jeder Beziehung
höchst ungesunde Erscheinung, nicht allein vom öko¬
nomischen Standpunkte, aus, muß verschwinden. Ebenso¬
das im Orient, ähnlich wie im Osten üppig gedeihende
Kleinhändler/turn. Dank der kaum1 glaublich bescheide¬
nen Lebensführung des orientalischen Basarhändlers
können dort zehntausend-e Menschen Erwerb am Klein¬
handel (und ganz merkwürdigen Formen des Klein¬
gewerbes) finden, wo hier in Europa ein einziges Waren¬
haus genügt. Diese Menschen bedeuten aber in einem
Wirtschaf tsstaate 'eine schwere Belastung, sie hemmen
den Aufstieg. Weder Warenhaus noch Kleinhandel je¬
doch soll in Erez Israel die Güterverteilung vornehmen,!
vielmehr sei dies den Konsumentenorganisationen
größten Stils einzig vorbehalten. Die vielen tausend*
hiedurch frei werdenden Kräfte können leicht und vor*
teilhaft, eben wegen ihjer relativen Bedürfnislosigkeit
und daher Billigkeit im Handwerk verwendet werden.
In welchem Maße der Großhandel, hauptsächlich
dann der Transithandel auf den Linien Damaskus*
Egypten^und Häfen-Jordantal-Bagdad zur Entwicklung
kommen wird, hängt vielfach von der politischen Ge
staltung des Orients ab. Keineswegs aber ist die An,
sieht, ein Durchzugsland wie die Schweiz oder Hollamj
zu werden, für die neu zu schaffende Staatlichkeit undj
das national-kulturelle Leben von 'Erez Israel vorteil
haft. Jedes dieser Länder, zumindestens seine Hafer
und Stapelplätze werden internationalisiert, der dortM
entstehende Reichtum bedeutet keine Bereicherung für
das nationale Leben und keine Stärkung der staatlichen,
Einheit (Beispiele: Saloniki, Antwerpen, Schanghai und
viele andere).
Wir wünschen uns nichts Gutes, und endlose
Zwistigkeiten und internationale Schwierigkeiten, wem
wir unser Land zum Verkehrsmittelpunkt ersten Ranges
erhoben sehen wollen. Der nächste Krieg, für den die
Rachgier Pfcmkreichs und die Schwäche Amerikas der
Keim gelegt haben, würde denn unser Land zu einen
zweiten Belgien machen. Wir wollen uns doch nicht zu
den Engländern des Orient machen?
Wie stellen wir uns unsere Heimstätte in Erez
Israel vor? National, kulturell und wirtschaftlich soll
sie der Zentralpunkt des Judentums werden, wobei die
Stellung eines eventuellen Galuths ganz außer Acht ge-
lassen werden kann, da Erez Israel wohl die Lage der
Juden in Europa beeinflussen wird, aber umgekehrt da?
Land politisch und kulturell durch die Galuthverhält
nisse nicht beengt werden darf. Es ist heute schlimtrs
genug, daß „Neue Freie Presse", Kettenhandel unß
Kommunismus auf das Judenkonto gebucht werden, den;
Judenstaat dürfen aus Ähnlichem keine Verpflichtungen
oder Ketten erstehen.
Um seine Selbständigkeit als kleinstaatlicher Or
ganismus (selbst im Rahmen eines Imperiums) erhalten
zu können, ist es nötig, daß die Wirtschaft möglich«!
nationalisiert und vom Weltmarkt unabhängig gemaen?
werde., Damit wird schon einer Hauptforderung aller
sozialistischen Programme einschneidend Rechnung gfr
tragen. Lebt ein Land ein vom Ausland möglichst m
abhängiges Dasein, so ist es für „Sozialisierung" viel
reifer, als ein Land mit zwar starker Zentralisation
seiner Produktion, jedoch einseitiger Entwicklung zum
Agrar-, beziehungsweise Industrieland.
Die beiden Forderungen an unser Land — geschlos¬
sene, sich selbst genügende Wirtschaft und Ausschalten
jeder unproduktiven Arbeit und jeder Arbeitslosigkeit
— werden aber nur möglich, wenn sämtliche ökono¬
mischen Mittel, Grund, Maschinen, Einfuhrs- und Aus¬
fuhrkredite, Verkehrswege in den Händen der Allge¬
meinheit sind. Jede privatwirtschaftliche oder kap^
talistische Ordnung der Produktion würde, durch ^
Profitinteresse der Unternehmer bedingt, nie zu ein«r
reinen Bedarfsproduktion, sondern stets zur Spelt*1'
lationsproduktion führen, das heißt nicht für den eigenen
Bedarf des Landes würden der Landmann und Industrien
erzeugen, Ausfuhr und Einfuhr nicht durch den Beda^
bedingt, sondern dieser willkürlich nach der „Konjnn1
tur" befriedigt v/erden.