Volltext: Nr. 37 (37. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Won eiiesieni uns! einst» 
Aus dem Jahre 1805 eines Tagebuches.* 
Es war einmal ein Jüngling, der partout für das 
Judentum kämpfen wollte. Vor zwei Jahren hatte er 
nach mancherlei Irrfahrten zu ihm .zurückgefunden. Jetzt 
quoll ihm das Ilerz davon über und er dürstete nach 
Betätigung. Aufgewachsen in einer oberösterreichischen 
Stadt, fern jüdischem Wesen, hatte er strebend nur das 
eine Ziel ersehnt, mitzuleben und^mitunferzugehen in der 
arisch-germanischen Allgemeinheit. Trödelwerk und 
zelotenhafter Übereifer erschien ihm das jüdische 
Gefühl und das fromme Streben der Seinen. Da hatte ein 
Zufall ihn einblicken lassen in die Poesie der verkannten, 
von den eigenen Söhnen mißverstandenen Welt und eine 
Sonne eines reinen Lichtes füllte sein Herz. Bange Tage 
eines revoltierenden inneren Sturmes, der gewaltsamen 
Abwehr vom Neuen und der unwiderstehlichen Sehnsucht 
nach dem Schönen durchlebte er grübelnd und zweifelnd. 
Und -— es siegte die Sehnsucht. 
Arbeiten wollte er nur für sein Volk, „s e i n" Volk, 
dessen Sprache er zu seinem innigsten Leidwesen nicht 
verstand, von dessen Geschichte er nur dürftige Brocken 
kannte, von dessen Heimat er die unklarsten Vorstel¬ 
lungen hatte; er hatte das alles nicht gelernt, was er 
wollte. 
Helfen wollte er aus seinen ganzen Kräften, die 
Juden um das alte Banner zu sammeln. Und so ging er 
denn hin und predigte. Einem jeden Juden, der ihm 
begegnete, wollte er etwas von seiner Begeisterung mit¬ 
teilen, einem jeden von der Alltagssorge Gedrückten 
wollte er das leuchtende Ideal zeigen, das jedem erreichbar 
sei, arm und reich, hoch und nieder, fromm und unfromm, 
wer nur nach ihm strebte. 
Der erste, der ihm in den Weg kam, war ein Freund 
von ehedem, ein Sozialdemokrat. ,,Ein Mensch, der Ideale 
besitzt, nur nicht die richtigen," dachte sich der Jüngling. 
Und,, er erzählte ihm von dem auferstandenen Juda, von 
dem Volke, das zu der alten, einzigen Wahrheit zurück¬ 
strebt. 
Aber überlegen entgegnete ihm der Menschenrecht¬ 
ler: „Eine Judenfrage kenne ich nicht, mein Lieber. Mit 
^dem Kapitalismus wird auch der Antisemitismus ver¬ 
schwinden, das ist doch sonnenklar. Und übrigens kennen 
wir eine jüdische Nation nicht und das ist doch bekannt, 
daß wir international sind." „Für die Juden !" fügte der 
Jüngling hinzu. Nach unnützer Verschwendung vieler 
Worte zog er weiter. TTnd er kam zu einer „Stütze der 
Gesellschaft". Ein wohlhabender Kaufmann, der mehrere 
jüdische Ehrenstellen inne hatte. Und der Jüngling er¬ 
zählte ihm von einer jüdischen Nation und einer eigenen 
Heimat. Da wies der Kaufmann auf die vielen jüdischen 
Geschäfte hin und sagte: „Die jüdische Konkurrenz ist 
hier schon nicht mehr zum aushalten.. Wenn ,dort/ die 
Juden untereinander sein sollten, würde einer den an¬ 
deren auffressen !" Und so ging es fort. Bald sagte^man 
ihm, er solle sich lieber um seinen Beruf kümmern, bald 
hieß es verwundert: „Ich habe über nichts zu klagen!" 
Bald bekam er Achselzucken zur Antwort, bald zynische 
Scherze. Bis er genug hatte und beschloß, auf andere 
Zeiten zu warten. Und die anderen Zeiten kamen. Es 
war nach der Wahl Luegers; Volkshaufen durchzogen mit 
wüstem Geschrei die Straßen und Plätze der Leopoldstadt, 
plündernd und verwüstend, unter Todesdrohungen auf die 
* Aus dem literarischen Nachlaß Dr. Emil Kronbergers. 
Juden. Da ergriff tiefer Ernst das Gemüt, des Jünglings, 
Und er fühlte, wie ihm der Schmerz über das Unglück 
seiner Brüder das Herz stählte. V oll frohen Mutes eilt« 
er hinaus, den Mühseligen die sichere Rettung zu zeigen. 
*_ Er ging erst zu einem, dessen Frömmigkeit und Wohl¬ 
tätigkeit bekannt war, dessen graue Haare man verehrte. 
Wiederum erzählte er vom neuen Bunde aller Juden un i 
wie das Unglück dieser Stadt von allen empfunden werde 
und der Kitt für die Verbrüderung werden sollte! Und 
wie sich die Jugend zurücksehne nach ihrem alten Vater 
hause. Da sprach der Zadik: „Was Sie von dem Bund« 
sagen, das hat nur akademischen Wert, Die Interest!, 
der Wiener Juden sind andere als die von N oder Z. 
Um uns drohendes Unglück zu verhindern, haben sich 
die Kultusgemeinden zusammengetan ; das genügt, den 
Juden tut aber etwas anderes not. Zu Gott sollen siet 
zurückkehren! Teffilien legen sollten sie wieder lernen 
und beten." Nach einigen nichtssagenden Worten vei 
abschiedete sich der Jüngling. Ihn fröstelte und es war 
ihm,- als ob er von einer Gruft herauskäme. Und er ging 
zu den Hungen. Die fand er nach dem ausgestandenen 
Schrecken munter und guter Dinge. Sie erzählten sieh 
Schnurren und wollten nichts wissen von Ernst und Zu¬ 
kunft, Den Jüngling schwindelte. Da führte ihn sei: 
Weg an einem geplünderten Laden vorüber. Draußen 
stand der um sein Brot gebrachte'Besitzer mit geröteten 
Augenliedern und stumpfem Blick. Teilnehmend gesellte 
sich der Student zu ihm und erzählte ihm von der großen 
Selbsthilfe. Aber der Geplünderte machte eine weg 
werfende Handbewegung: „Was, wir? Sobald uns Roth¬ 
schild und die übrigen Großen mit ihren Millionen und 
ihrer Macht nicht helfen, sind wir verloren." 
Gebrochen kam der Jüngling nach Hause und weinte 
bittere Tränen, doch da zuckte ein Gedanke um sein 
Hirn. Bald wurde er ruhig und aus seinen Augen leuch¬ 
tete wieder die Hoffnung. Den Vorbeter seiner kleinen 
Gemeinde suchte er auf und fing mit großem Fleiße ani 
zu lernen. Olef, Beth. — Er agitierte weiter. Aber wenn 
er, was am häufigsten geschah, auf Unvernünftige oder 
Unwürdige stieß, zweifelte er nicht mehr, denn immer 
tiefer schlug er Wurzel in einem Fels, der ihm festen 
Halt gab für alle Zeiten. 
Vier Jahre später traf der Schreiber dieser Skizze : 
ihn wieder und ward sein Beichtvater. Der Jüngling war 
zum1 Manne gereift, Sich selbst ein strenger Richter, der 
sein Herz und Fühlen vertiefen wollte, war er der mil¬ 
deste Beurteiler fremder Schwächen. Eingewachsen in 
sein Evangelium,«lebte er nur seinem Berufe, dem Elend 
und der Armut werktätige Hilfe zu reichen. Er war 
Arzt, nicht allein seine' Kranken, seine beladenen Brüder 
aufzurichten, war sein größtes Glück. Ein abgeklärtes, 
über seine Jahre hinaus ernstes Innenleben all* dem 
Tagesvergnügen fremd, hatte ihn geläutert, Liebe und 
Leidenschaft waren an seiner Reinheit abgeprallt und die 
Herzlichkeit einer mildheiteren Freundschaft geblieben. 
Draußen im fernen Osten aber nannten die Erlösten 
seinen Namen wie den eines großen Wohltäters. Ihnen 
hatte er ein heiliges Feuer entzündet, an dem sie, zum 
schönen Werdegang bereit, dem Ghettojamfmer entflohen, 
sich wärmen könnten, ein Feuerlicht des reinen Ideals 
und der geistigen Erhöhung. Das ward seine Liebe. 
14. Nov. 99. K—r E—1.
	        
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